Quelle: Der Offizier 1/19PDF-Version

Der Generalstabschef, Mag. Robert Brieger, hat eine verstärkte Fokussierung auf die militärische Landesverteidigung und auf die Kernaufgaben des Bundesheeres angekündigt. Der budgetäre Rahmen des Österreichischen Bundesheeres lässt weiterhin kaum einen Spielraum zu. Beim bestehenden Investitionsstau stellt das Sonderbudget Luft nur einen Tropfen auf den heißen Stein dar. Ein weiteres Sonderpaket für die Miliz könnte kommen. Ein drittes würde für die Realisierung des Leuchtturmprojektes „Sicherheitsinseln“ benötigt. Ob die Forderung des Herrn Bundespräsidenten, den verfassungskonformen Zustand des Österreichischen Bundesheeres wiederherzustellen realistisch ist, werden die nächsten Monate zeigen. Wie könnte daher eine militärische Landesverteidigung unter diesen Rahmenbedingungen und in Anbetracht massiver Umbrüche aussehen? Der Autor stellt dazu eine kritische systemischen Betrachtung an.

Gesamter Beitrag als PDF-Version

Der Begriff „hybride Bedrohungen“ versucht seit einigen Jahren die neue Unordnung zu beschreiben. Bei genauerer Betrachtung stellt sich jedoch heraus, dass viele Dinge nicht ganz so neu sind. Auch im Kalten Krieg gab es verschiedene Dimensionen der Konflikt- und Kriegsführung. Das was neu ist, ist die heutige Vernetzung und die damit verbundenen Möglichkeiten der Beeinflussung. Denn schon Sunzi wusste: „Die größte Leistung besteht darin, den Widerstand des Feindes ohne einen Kampf zu brechen“

Besonders präsent sind etwa Cyber-Angriffe und Fake News. Gleichzeitig laufen wir aber Gefahr, andere Dinge zu übersehen, wenn wir uns zu sehr auf mögliche Akteure fokussieren.

Infrastrukturelle Verwundbarkeit

So sind etwa durch die Vernetzung unsere infrastrukturellen Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten ebenfalls rasant angestiegen. Dabei steht die ganz große Vernetzung (Stichworte wie Digitalisierung oder Internet of Things) noch bevor. Dazu haben wir aber bisher kaum Antworten, außer, dass eh noch nichts Gravierenderes passiert ist. Das ist aber eine gefährliche Truthahn-Illusion. Ein Truthahn, der Tag für Tag von seinem Besitzer gefüttert wird, nimmt aufgrund seiner täglich positiven Erfahrung an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas gravierend Negatives passiert, von Tag zu Tag kleiner wird. Sein Vertrauen steigt mit jeder positiven Erfahrung (Fütterung). Am Tag vor Thanksgiving (bei dem traditionell die Truthähne geschlachtet werden) erlebt er allerdings eine fatale Überraschung.

Ein europaweiter Strom- und Infrastrukturausfall

Das zentrale Szenario Blackout, also ein europaweiter Strom- und Infrastrukturausfall, wurde bereits im Der Offizier ausführlicher behandelt. Auch hier hat sich die Lage nicht geändert. Das System ist durchaus robuster als erwartet. So wie jedoch die Entwicklungen bisher auf europäischer Ebene verlaufen und in den nächsten fünf Jahren absehbar sind, sollten wir aber nicht davon ausgehen, dass uns das Glück weiterhin treu bleiben wird. Unser Vorbereitungsgrad hat sich kaum verbessert. Wir steuern hier ungebremst auf die größte Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Auch deshalb, weil sich niemand so richtig für dieses Szenario in seiner Gesamtheit zuständig und verantwortlich fühlt. Natürlich gibt es Überlegungen und Vorbereitungen in einzelnen Bereichen. Diese können jedoch nicht mit dem Umfang des zu erwartenden Szenarios mithalten. Und der wesentlichste Akteur, die Bevölkerung, ist nach wie vor kaum informiert noch vorbereitet.

Nicht das einzige Szenario

Ein Blackout ist natürlich nicht das einzige Szenario, dass uns in dieser Dimension treffen kann. Aber wenn man sich mit diesem Szenario beschäftigt und sich darauf vorbereitet hat, kann man so gut wie jedes andere auch bewältigen. Denn kaum wo anders kommt es derart abrupt und weitreichend zum Ausfall aller Infrastrukturen. Ein anderes Ereignis, das uns laut Wissenschaft zu einhundert Prozent treffen wird, ist eine Pandemie. Auch hier wird es zu enormen Versorgungsengpässen kommen, wenn reihenweise Personal ausfällt und unsere hoch optimierten Logistikketten auseinanderbrechen. Ja sogar ein Blackout ist möglich. Denn die Personaldecke ist auch in diesem Bereich nicht sehr dick. In Kombination mit den zunehmenden Herausforderungen im täglichen Netzbetrieb ist das daher alles andere als unmöglich.

 Versorgungsunterbrechungen

Daher geht bereits heute und noch mehr in Zukunft die größte Gefahr für unsere moderne Gesellschaft von weitreichenden Versorgungsunterbrechungen aus. Egal, wodurch diese ausgelöst werden. Denn unsere hoch optimierten Just-in-Time Prozesse vertragen keine größeren Störungen. Das betriebswirtschaftliche Gewinnstreben ist in vielen Bereichen nur mehr durch Effizienzsteigerung in Form von der Reduktion von Reserven und Redundanzen bzw. Personal möglich. Damit fehlt bereits heute in vielen Bereichen die überlebenswichtige Robustheit bzw. ausreichend qualifiziertes Personal, um nach einer Großstörung die Systeme wieder rasch hochfahren zu können. Auch im Österreichischen Bundesheer hat sich das in den vergangenen Jahren deutlich niedergeschlagen.

 Vernetztes Denken und Handeln

Die neue Bedrohungslage lässt sich kurz zusammenfassen: Hoch vernetzt und viele wechselseitige Abhängigkeiten auf der einen Seite und etwas überspitzt ausgedrückt, auf der anderen Seite klassische durchaus bewährte hierarchische Strukturen und „Silos“, die mit der Geschwindigkeit der neuen Entwicklungen und Veränderungen nicht mithalten können. Denn diese erfordern ein hochgradig vernetztes und systemisches Denken und zusammenwirken, sowie eine rasche Anpassungsfähigkeit. Wobei das natürlich nicht pauschal gilt. Sicher gibt es auch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen. Sie entspricht nur oft noch nicht ganz den Herausforderungen, die hier auf uns zukommen. Und in der Regel wird die Bevölkerung außen vorgelassen, wie auch eine wissenschaftliche Untersuchung zur Resilienz Österreichs zu Tage geführt hat. Eigentlich sollten sich aber die Bemühungen des Staates und seiner Akteure um die Bevölkerung drehen und zum anderen ist gerade bei großen Umbrüchen und Ereignissen die Bevölkerung der wesentliche Akteur.

Die von uns durch Vernetzung geschaffene Komplexität kann nur mit einer ebenso hohen organisatorischen Komplexität gesteuert werden. Hierarchien sind auf keinen Fall obsolet. Aber im Umgang mit Komplexität müssen diese flexibler und anpassungsfähiger gestaltet werden. Eine unvollendete Reform nach der anderen zeigt, dass so das Problem offensichtlich nicht zu lösen ist. Wobei das für Offiziere nicht ganz neu sein sollte: Truppeneinteilungen oder der Kampf der verbundenen Waffen sind eigentlich ein Beispiel für vernetztes Denken und Handeln! Nur geht es heute nicht nur mehr um Waffensysteme und klar definierte Gegner.

 Künstliche Intelligenz

Ein neues Themenfeld, das sich gerade auftut und einige negative Nebenwirkungen mit sich bringen wird, ist Künstliche Intelligenz (KI). Vielfach versteckt sich dahinter nur Marketing, was aber nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass es sehr wohl auch schon fortgeschrittene Systeme gibt. Sicherheitspolitisch sind dabei zwei Themenfelder von besonderer Relevanz: „Deep-Fake“ und KI als Cyber-Angriffswaffen

Die Fotofälschungen sind ein alter Hut. (Live)Video und Audio galten bisher noch als weitgehend vertrauenswürdig. Doch das ändert sich gerade. „Deep-Fake“ bezeichnet die Möglichkeit, Video- und Audiostreams in Echtzeit zu fälschen. In Zusammenhang mit der raschen Eskalationsfähigkeit in Sozialen Medien kann hier eine Kettenreaktion mit nicht vorhersehbaren Folgen ausgelöst werden. Dabei muss gar keine Absicht dahinterstecken. In politisch labilen Zeiten und hoher Aktionismusbereitschaft („Twitter-Präsident“) kann eine kleine Ursache weitreichende geopolitische und wirtschaftliche Folgen auslösen.

Künstliche Intelligenz soll zur Erhöhung der Cyber-Sicherheit beitragen. Viel wahrscheinlicher erscheint jedoch, dass KI deutlich früher und weitreichender auf der dunklen Seite zur Anwendung kommt. Denn da müssen weder Qualitäts- oder Ethikstandards, noch ein Datenschutz berücksichtigt werden. Es geht nur darum, Dinge schneller und besser als mit den bisherigen Methoden zu erreichen. Zudem gibt es keine gesellschaftliche Verantwortung. Das birgt einiges an Sprengkraft.

KI-Systeme sind nicht-lineare Systeme. Das bedeutet, man kann nicht vorhersehen, wohin sie sich wirklich entwickeln und was sie genau machen. Schon gar nicht, wenn sie nicht nur für einen klar eingegrenzten Bereich eingesetzt werden. Wobei wir noch weit von einer Maschinenherrschaft („Superintelligenz“) entfernt sind. Aber es reichen bereits Täuschungen, die zu menschlichen Fehlentscheidungen führen, um weitreichende Folgen auszulösen. Siehe Deep-Fakes.

Die geplante europäische Regulierung wird diese Entwicklungen wohl kaum aufhalten können. Hier kommen bisher bewährte Denkmuster zum Einsatz, die aber bei den neuen Rahmenbedingungen kaum Wirkung zeigen werden. Ganz abgesehen davon, dass die möglichen Angriffswerkzeuge von ganz wo anders herkommen werden.

Afrika

Ein ganz anderes Thema ist das Bevölkerungswachstum in Afrika. Hier wird eine Verdoppelung der Bevölkerung bis 2050 erwartet. Das bedeutet, ein Anstieg von rund 1,2 auf 2,5 Milliarden Menschen. Bereits heute müssten pro Jahr 20 Millionen neue Jobs geschaffen werden, um vor allem die jungen Männer zu beschäftigen und ein vernünftiges Leben zu ermöglichen.

Hier ist ein enormes Pulverfass entstanden, dass mit unseren bisherigen Denkansätzen nicht beherrschbar sein wird. Das die europäische Sicherheit unmittelbar davon abhängt, muss nicht weiter ausgeführt werden.

Die Grenzen des Wachstums

Mit dem Handeln hätte man jedoch bereits vor 50 Jahren beginnen müssen. Denn die Folgen wurden bereits 1972 sehr klar im Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ aufgezeigt. Auch, dass diese Entwicklung in Kombination mit der steigendem Ressourcenübernutzung und Umweltverschmutzung noch in diesem Jahrhundert zu einem globalen Kollaps führen wird. Unser seit damals nicht geändertes bzw. sogar deutlich verschärftes Wachstumsparadigma entspricht im Wesentlichen dem damals festgelegten Standard-Welt-Modell. Bei diesem ist zu erwarten, dass es bereits im nächsten Jahrzehnt zu erheblichen Verwerfungen kommen wird. Auch wenn es dabei um globale Einschätzungen geht, werden die Auswirkungen in unserer hochvernetzten, globalisierten Welt überall zu spüren sein. Eine größere Störung in einer Weltregion pflanzt sich rasch in alle Weltgegenden fort.

Es gebe noch einige weitere Themen anzuführen, um die absehbaren Umbrüche zu untermauern. Etwa die politischen Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU oder die steigende Unzufriedenheit der Menschen in Europa, welche sich beispielsweise in der deutlich gestiegenen Streikbereitschaft wiederspiegelt. Auch die Folgen eines zunehmend wahrscheinlicher werdenden chaotischen BREXITs sind nicht absehbar. Sie werden uns aber nicht unberührt lassen. Auf alle Themenfelder einzugehen, würde einerseits den Rahmen sprengen und andererseits doch nicht vollständig sein.

Gleichzeitig zeigen die wenigen Beispiele, dass hier kaum ein militärisch relevanter Gegner oder Akteur vorkommt. Und wenn, wie bei Deep Fake oder Künstliche Intelligenz, ist er kaum greifbar. 

Umfassende Landesverteidigung

Was könnte das nun für eine Umfassende und nicht nur Militärische Landesverteidigung bedeuten? Denn das Verständnis für die Systemkomponenten ergibt sich stets aus der Kenntnis des Ganzen, nicht umgekehrt. Anders ausgedrückt: Wer nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel. Und das führt bekanntlich in die Sackgasse.

Hier beginnt bereits das Problem. Der Zustand der Militärische Landesverteidigung (MLV) ist bekannt. Die Geistige (GLV) und Wirtschaftliche Landesverteidigung (WLV) gibt es defacto nicht mehr. Die Zivile Landesverteidigung beschränkt sich auf die Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit durch die Polizei. Die holistischen Überlegungen der Vergangenheit sind längst nur mehr Worthülsen. Natürlich wäre es nach 40 Jahren notwendig, die Inhalte an die massiv veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Die ursprünglichen gesamtheitlichen Überlegungen haben aber nach wie vor Gültigkeit und spiegeln ein vernetztes Denken wieder. Auch wenn die tatsächliche Umsetzung, wie bei so vielen hervorragenden Konzepten und Strategien, dann deutlich von der Grundidee abgewichen ist. Auch der modernere Begriff der Umfassenden Sicherheitsvorsorge reiht sich hier nahtlos ein. Was nicht bedeutet, dass Einzelbereiche nicht doch gut abgedeckt werden, was nicht zu Letzt auch durch unseren sehr hohen Wohlstand bestätigt wird. Aber ein System ist mehr als die Summe der Einzelelemente. Und was bisher Gültigkeit gehabt hat, kann sich bereits morgen schlagartig ändern, wenn eines der oben angeführten Szenarien eintreten sollte.

Gesamtsicht und Koordinierung („Orchestrierung“)

Daher sind eine Gesamtsicht und Koordinierung („Orchestrierung“) unverzichtbar. Doch wer in Österreich verfolgt diese Gesamtsicht? Hier tun sich viele Fragezeichen auf. Im Umkehrschluss: Wie soll dann eine Militärische Landesverteidigung in dieses Gesamtkonzept passen?

Daher bedeutet ein zurück zu den Wurzeln nicht ein Wiederherstellen von vergangenen Zeiten oder Strukturen, sondern viel mehr, dass damals bereits angewandte vernetzte, systemische Denken wieder aufleben zu lassen und mit neuen Inhalten zu befüllen.

Systemische Zielsetzung

Das Ganze beginnt mit einer systemischen Zielsetzung. Was soll überhaupt gesamtstaatlich erreicht werden? Was bedeutet Schutz und Sicherheit unter den heutigen und absehbaren zukünftigen Rahmenbedingungen? Wie können die Menschen – und um die geht es genau genommen – vor Schaden bewahrt werden? Wie kann der sehr hohe Lebensstandard aufrechterhalten werden? Was wird dazu benötigt? Wie können diese Ziele am effektivsten (die richtigen Dinge tun) und am effizientesten (die Dinge richtig tun) erreicht werden?

Mit diesem Ansatz sollte relativ rasch klar werden, dass es wohl nicht um Panzer gehen wird. Natürlich wird sofort der Einwand kommen, dass das nicht Aufgabe des Militärs ist. Richtig! Aber wir haben bereits festgestellt, dass es um vernetztes Denken und um eine gesamtstaatliche Verantwortung geht, die offensichtlich mit unserem bisherigen „Silodenken“ nicht bewältigbar ist. Beziehungsweise, dass es scheinbar niemanden gibt, der diese Aufgabe aktuell wahrnehmen würde. Natürlich ist das in einem Land mit einem der höchsten Lebensstandards weltweit jammern auf hohem Niveau. Aber erinnern wir uns an die Truthahn-Illusion. Und in stabilen Zeiten funktionieren Dinge oft einfach von selbst. Diese stabilen Zeiten haben auch dazu geführt, dass wir träge geworden sind bzw. zu viele Dinge formalisiert und bürokratisiert haben. In einem dynamischen Umfeld funktionieren starre Regeln jedoch schlecht oder gar nicht. Als weitere Nebenwirkung kam auch noch die Vernachlässigung es Bundesheeres hinzu.

Schutz der Bevölkerung

Was ist daher aus einer systemischen Betrachtung erforderlich, um den Schutz der Bevölkerung sicherstellen zu können?

Es geht dabei wohl nicht nur um das Bundesheer oder um die Militärische Landesverteidigung. Wir Soldaten haben gelobt, „die Republik Österreich, und sein Volk zu schützen“. Erst dann kommt: „und mit der Waffe zu verteidigen.“ Im Sinne von Sunzi könnten wir uns daher stärker auf den ersten Teil fokussieren. Denn in einem Umfeld, wo eine derart hohe infrastrukturelle und versorgungstechnische Abhängigkeit und Verwundbarkeit gegeben ist, wird der zweite Teil kaum eine Rolle spielen. Niemand wird mit bewaffneten Kräften einmarschieren, wenn er sein Ziel wesentlich einfacher und schneller erreichen kann. Der Einwurf, aber die Krim, sollte als Sonderfall betrachtet werden. Da ging es wohl um strategische Überlegungen, den Hauptstützpunkt der eigenen Kräfte nicht zu verlieren.

Wir Offiziere haben eine sehr hochwertige und holistische Ausbildung. Wir könnten daher im Sinne von Schutz deutlich mehr daraus machen. Das erfordert jedoch eine gewisse Anpassung und Lernfähigkeit. Wir müssten die bestehenden Denkrahmen verlassen. Die heutige Realität spielt sich nur mehr selten auf einem Schlachtfeld ab. Zum Glück. 

Ein wesentlicher Mehrwert wäre daher das Denken über die bestehenden Systemgrenzen hinaus und die Moderation von unterschiedlichen Akteuren, damit eine holistische Sicht und damit auch Sicherheit möglich wird. Das, was wir immer wieder bei Auslandseinsätzen so erfolgreich unter Beweis stellen.

Wir verfügen auch über eine ausgezeichnete Analysefähigkeit. Nutzen wir diese und erweitern sie um neue Fähigkeiten, die heute überall gebraucht werden, um möglichst breit anschlussfähig zu bleiben.

Den Wehrdienst und die Miliz neu denken

Der Wehrdienst und die Miliz können als sehr wichtiges Asset wahrgenommen werden. Weniger für die klassischen militärischen Aufgaben, als vielmehr für einen aktiven Beitrag zur Erhöhung der gesamtgesellschaftlichen Resilienz und Widerstandsfähigkeit, indem junge Männer gezielt dazu ausgebildet werden, auch mit Entbehrungen und Unsicherheit umgehen zu können bzw. dazu befähigen, ihre Familien krisenfest zu machen. Das muss natürlich deutlich über das bisherige „Leben im Felde“ hinausgehen. Indem wir ihre Selbstwirksamkeit erhöhen, tragen wir auch zur gesellschaftlichen Robustheit bei. Zusätzliche Qualifikationen für die Blaulichtorganisationen oder den Katastrophenschutz währen ein großer gesellschaftlicher Mehrwert. Das Ansehen und damit die Attraktivität des Bundesheeres würden automatisch steigen. Das Milizkader könnte speziell dafür ausgebildet werden, bei Katastrophen vor Ort dafür zu sorgen, dass möglichst rasch wieder Strukturen und Ordnung entstehen können. Eine zusätzliche Qualifikation im Risikomanagement würde sowohl der Gesellschaft als auch Wirtschaft nützen. Die Attraktivität der Milizausbildung würde schlagartig steigen.

Diese Fähigkeiten wären auch bei Auslandseinsätzen sehr nützlich. Es kann nicht wirklich zielführend sein, über Jahrzehnte militärische Einsätze am selben Ort durchzuführen. Die Fähigkeit, soziale Strukturen aufzubauen und zu stabilisieren („Nation-building“), kann in instabilen Zeiten, Regionen oder Situationen kaum genug wertgeschätzt werden. Egal, ob nach einem Krieg, einem Blackout oder nach einem Terroranschlag.

Der Jagdkampf wurde nach dem Ende des Kalten Krieges rasch abgeschafft. Doch die Grundidee hat nach wie vor Gültigkeit: Viele dezentrale, kleine autonome Einheiten können auch einen großen Gegner zum Fall bringen. Heute geht es nicht mehr um einen großen Gegner, sondern um unsere infrastrukturellen Abhängigkeiten. 12 Sicherheitsinseln können die Republik im Fall eines Blackouts nicht retten. Tausende Gemeinden, wo Soldaten in ihrem Umfeld mitwirken, möglichst rasch wieder eine Struktur herzustellen, aber schon. Wenn vorangegangen auch noch die Risikomanagementkompetenz eingebracht wurde, noch viel besser. Gerade die jüngsten Sturm- und Schneeereignisse haben wieder vor Augen geführt, dass die bestehenden Strukturen und „Katastrophenschutzpläne“ oft nicht das halten können, was sie versprechen. Vor allem auf der Gemeindeebene fehlt qualifiziertes Personal, um mit den steigenden Anforderungen in der Krisenvorsorge und -bewältigung fertigwerden zu können. Was könnte das für die nationale Sicherheit bedeuten, wenn Soldaten nicht erst im Katastrophenfall zum Einsatz kämen, sondern bereits bei der Krisenvorsorge und -prävention unterstützen würden? Ja, das ist derzeit nicht vorgesehen. Aber wer hindert uns daran, die notwendigen Rahmenbedingung und Voraussetzungen zu schaffen?

Daher ist die Frage der Effektivität besonders entscheidend. Diese kann nur erreicht werden, wenn man den bestehenden Denkrahmen verlässt und Schutz und Sicherheit als ein holistisches Konzept versteht, welches auch den Umgang mit Unsicherheit beinhaltet. Daher sind heute Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nicht nur in der Wirtschaft gefordert. Also Soft Skills und Dezentralisierung von Verantwortung. Wobei es letztendlich immer um ein sowohl-als-auch geht, wie die Mitautorin von „Die Grenzen des Wachstums“, Donella Meadows, hervorragend beschrieben hat:

„Hierarchien sind brillante Systemerfindungen, nicht nur, weil sie einem System Stabilität und Widerstandsfähigkeit verleihen, sondern auch, weil sie die Informationsmenge reduzieren, die jedes Einzelteil des Systems im Auge behalten muss. In hierarchischen Systemen sind die Beziehungen innerhalb der Teilsysteme enger und stärker als die Beziehungen zwischen den Teilsystemen. Alles ist noch immer mit allem anderen verbunden, aber nicht gleich stark. Der ursprüngliche Zweck einer Hierarchie ist immer, seinen ursprünglichen Teilsystemen zu besseren Leistungen zu verhelfen. Hierarchische Systeme entwickeln sich von unten nach oben. Zweck der oberen Hierarchieebenen ist es, den Zweck der unteren Ebenen zu dienen.“

Wie sieht die heutige Realität aus? Daher geht es auch darum, ob sich das Österreichische Bundesheer neu erfinden kann, oder ob es das Schicksal eines jeden erstarrten Systems erleiden muss: Es wird von der Realität überholt („Schöpferische Zerstörung“).

Daher nochmals Donella Meadows: „Zu tun, als habe man alles im Griff, selbst wenn das nicht so ist, ist nicht nur ein Patentrezept für Fehler, sondern auch dafür, aus Fehlern nicht zu lernen. Was in einem Lernprozess wirklich angebracht ist, sind kleine Schritte, ständiges Beobachten und die Bereitschaft, den Kurs zu ändern, während man noch dabei ist herauszufinden, wohin er führt.“

Natürlich birgt ein derart hochqualifiziertes Personal auch die Gefahr einer großen Fluktuation. Aber damit würde wiederum ein Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Robustheit und Resilienz geleistet werden. Es kommt daher sehr auf den Blickwinkel an. Im Sinne von „zu schützen“ daher durchaus erwünscht. Auf der anderen Seite ist zu erwarten, dass durch eine derartige Unternehmenskultur die Bindung an die Organisation steigt. Denn Geld ist nicht alles. Und ein Austausch zwischen den unterschiedlichen Strukturen würde wiederum befruchtend wirken und auch die notwendige Vernetzung schaffen. Daher ist hier ein klarer Vorteil zu erkennen, wenn man die Dinge ganzheitlich und im Sinne einer Umfassenden Landesverteidigung betrachtet, so wie wir es vor vielen Jahren auf der Militärakademie gelernt haben: Im Sinne des Ganzen denken!

In gewisser Weise mag diese Betrachtung nun für den einen oder anderen Leser eine Utopie darstellen. Möglich. Der Autor sieht sie jedoch vielmehr als große Chance. Denn der bisherige Weg hat nicht aus der jahrzehntelangen Misere geführt. Also kann ein mehr vom Selben nicht wirklich als erfolgreich bezeichnet werden. Gleichzeitig sind die Risiken relativ überschaubar. Ganz im Gegenteil. Die Chance, dass damit das Ansehen und damit die Reputation des Österreichischen Bundesheeres deutlich steigen, sind sehr hoch, was sich wohl auch wirtschaftlich niederschlagen dürfte. Im Gegensatz dazu könnte das Festhalten an der reinen Militärischen Landesverteidigung zu einem fatalen Vertrauensverlust führen. Nämlich dann, wenn sich in einer wirklich kritischen Situation herausstellt, dass tatsächlich keine der verfassungsmäßigen Aufgaben mehr bewältig werden kann, bzw. die Erwartungen viel zu hoch geschürt wurden. Denn „Wir schützen Strom und Wasser“ ist zwar ein guter Marketingslogan, entspricht jedoch nicht der Realität. Denn vernetzte Infrastrukturen lassen sich nicht durch den Schutz von Einzelobjekten sichern. Zur Bewältigung von weitreichenden Infrastrukturausfällen müsst das Bundesheer zuerst einmal die eigene Handlungsfähigkeit wiederherstellen. Aber auch die wird bei weitem nicht reichen, um allen helfen zu können.

Trotz allem geht es bei systemischen Betrachtungen immer um ein sowohl-als-auch. Das bedeutet, dass damit nicht alle militärischen Fähigkeiten in Frage gestellt oder für obsolet erklärt werden. Aber sie sollten im Sinne der systemischen Zielsetzung kritisch hinterfragt und an die neuen Bedürfnisse angepasst werden. Denn nichts ist schlimmer als Selbstbetrug und Scheinsicherheit. Innovationen sind nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Umfassenden Landesverteidigung notwendig, um auch in Zeiten von großen Umbrüchen und Verwerfungen „Schutz und Hilfe“ leisten zu können. Ein Staat, der auf eine robuste Infrastruktur und resiliente Gesellschaft bauen kann, ist gegenüber einer Vielzahl von möglichen Ereignissen gewappnet. Wagen wir es daher, die Dinge neu zu denken und mutige Schritte zu setzen!

Gesamter Beitrag als PDF-Version