Dieser Beitrag wurde dankenswerterweise von Marcel Würmli zur Verfügung gestellt. Er beschäftigt sich als eh. Elektro-Ingenieur in Ruhestand ebenfalls mit dem Energiezellensystem (Zellularen Ansatz).
Zusammenfassung
Das europäische Verbundsystem stabilisiert die Netzfrequenz bisher zentral durch Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) mit Regelenergieleistungen. Die Zunahme fluktuierender und wetterabhängiger Erzeugung aus Photovoltaik (PV) und Wind führt zu größeren Prognosefehlern und höheren Regelenergiebedarfen. Die Stilllegung konventioneller Großkraftwerke verringert die verfügbare Regelkapazität, was kostenintensive Eingriffe erfordert.
Das Subsidiaritätsprinzip sieht vor, dass die physikalische Bilanz zwischen Angebot und Nachfrage lokal hergestellt wird. Dieses Konzept steht im Zentrum des Zellularen Energiesystems (ZES), in dem jede Zelle Erzeugung und Verbrauch selbst ausgleicht. Eine stärkere lokale Bereitstellung entlastet das Übertragungsnetz und erhöht die Resilienz des Gesamtsystems.
Lokale Regelenergie ermöglicht schnelle Reaktionen auf Verbrauchssprünge und reduziert die Belastung von Übertragungsleitungen. Die Nutzung von Flexibilitäten im Netz, wie flexible Erzeugung, Last und Speicherung, ist entscheidend. Batterie-Energiespeichersysteme (BESS) und mobile Speicher in Elektrofahrzeugen (Vehicle-to-Grid, V2G) können zur Netzstabilität beitragen.
Ein dezentrales Regime erhöht die Systemstabilität und Resilienz, reduziert Netzinvestitionen und optimiert Betriebskosten. Es ermöglicht neue Erlösmodelle für dezentrale Akteure und erhöht die gesamtwirtschaftliche Effizienz. Die Umsetzung erfordert jedoch eine neue Koordinationsstruktur, wirtschaftliche Anreize und regulatorische Anpassungen.
Die Steuerung dezentraler Einheiten erfordert hochentwickelte IT-Strukturen und sichere Kommunikation. Regulatorisch müssen neue Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Nutzung von Flexibilität zu ermöglichen. Langfristig könnte ein dynamisches, digitales und dezentrales Netz die Integration erneuerbarer Energien ohne Stabilitätseinbußen ermöglichen.
1. Status quo der Regelenergie in Europa und der Schweiz
Gegenwärtig wird die Netzfrequenz im europäischen Verbundsystem zentral durch Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) mit verschiedenen Regelenergieleistungen stabil gehalten. Man unterscheidet typischerweise Primärreserve (FCR), Sekundärreserve (aFRR) und Tertiärreserve (mFRR). Diese werden in wettbewerblichen Märkten von Kraftwerksbetreibern oder Aggregatoren angeboten und von den ÜNB grenzüberschreitend beschafft. In der Praxis stellen grosse, flexible Kraftwerke (z.B. Pumpspeicher, Gasturbinen) den Grossteil dieser Ausgleichsenergie bereit. In der Schweiz koordiniert die nationale Netzgesellschaft Swissgrid als ÜNB den Bilanzausgleich in ihrer Regelzone. Sie stellt sicher, dass Stromerzeugung und Verbrauch in der Schweiz jederzeit ausgeglichen sind. Swissgrid rechnet Abweichungen über die Ausgleichsenergie gegenüber den Stromhändlern bzw. Bilanzgruppen ab – d.h. Differenzen zwischen prognostiziertem Fahrplan und realer Einspeisung/Entnahme werden finanziell ausgeglichen.
1.1 Herausforderungen des heutigen Regimes
Die rapide Zunahme fluktuierender Erzeugung aus Photovoltaik (PV) und Wind stellt das zentrale Regelsystem vor wachsende Schwierigkeiten. Wetterabhängige Einspeiser führen zu grösseren Prognosefehlern und kurzfristigen Leistungsänderungen, was höhere Regelenergiebedarfe auslöst. Gleichzeitig verringert die Stilllegung konventioneller Grosskraftwerke – vor allem in Europa – die verfügbare Regelkapazität und auch die Momentanreserve (Rotationsenergie zur Frequenzstützung). ÜNB müssen vermehrt kostenintensive Eingriffe vornehmen, um Frequenz und Lastflüsse zu stabilisieren. So weist ENTSO-E darauf hin, dass steigende volatile Erzeugung die Anforderungen an das System-Balancing erhöht, während die Verfügbarkeit traditioneller Regelressourcen sinkt. Dies kann zu höheren Regelenergiekosten für Verbraucher führen. Ferner sind die heutigen Märkte teils noch national fragmentiert; grenzüberschreitende Ausgleichsmechanismen (z.B. gemeinsame Beschaffung von Primärreserve) befinden sich im Aufbau. In der Schweiz kommt hinzu, dass ohne Stromabkommen mit der EU die Integration in europäische Regelleistungsmärkte herausfordernd ist.
Insgesamt zeigt sich, dass das bestehende zentralisierte Regime an Grenzen stösst: Die Verteilnetze nehmen immer aktiver am Geschehen teil (Einspeisung dezentraler Erzeuger, Rückspeisung von Überschüssen), sind aber im heutigen System vor allem passive Empfänger von Vorgaben. Diese Diskrepanz führt zu Ineffizienzen und Spannungsproblemen im Verteilnetz sowie zu Engpässen im Übertragungsnetz, wenn lokale Überschüsse oder Defizite nicht lokal ausgeglichen werden können.
2. Subsidiaritätsprinzip für Regelenergie und zellulare Ansätze
Eine vielversprechende Antwort auf diese Herausforderungen ist das Subsidiaritätsprinzip in der Bereitstellung von Regelenergie. Nach diesem Prinzip soll die physikalische Bilanz zwischen Angebot und Nachfrage so weit wie möglich auf lokaler Ebene hergestellt werden – nur verbleibende Restabweichungen werden an die nächsthöhere Netzebene weitergereicht. Dieses Konzept steht im Zentrum des Zellularen Energiesystems (ZES): Jede Zelle – etwa ein Ortsnetz oder eine Region – strebt an, Erzeugung und Verbrauch selbst auszugleichen, bevor Hilfe von aussen bezogen wird. In einem solchen subsidiären Regime würden Eingriffe der ÜNB erst erfolgen, wenn die unteren Ebenen ihre Möglichkeiten ausgeschöpft haben.
2.1 Vorteile lokaler Regelenergie
Eine stärkere lokale Bereitstellung entlastet das Übertragungsnetz und erhöht die Resilienz des Gesamtsystems. Wenn zum Beispiel ein unerwarteter Verbrauchssprung in einer Stadt eintritt, könnten lokale flexible Ressourcen (Batteriespeicher, Lastmanagement) sofort reagieren, anstatt Regelenergie aus hunderte Kilometer entfernten Kraftwerken anzufordern. Dadurch bleiben Ausgleichsströme kleinräumiger, was Übertragungsleitungen und Kuppelstellen weniger belastet.
Die VDE-Studie “Der zellulare Ansatz” betont, dass durch subsidiäre Ausgleichsmechanismen der Ausbau erneuerbarer Energien zügiger voranschreiten kann, ohne das Übertragungsnetz durch Stabilisierungseingriffe zu überfrachten. Lokale Flexibilität erhöht zudem die Versorgungssicherheit, da jede Zelle bis zu einem gewissen Grad autonom agieren kann. Im Extremfall könnten sich Zellen bei Störungen vom Verbund lösen und als Inselnetz stabil weiterlaufen – ein Ansatz, der etwa in Bordesholm (D) 2019 demonstriert wurde, als die Gemeinde testweise vom Verbundnetz getrennt wurde und für eine Stunde 100 % erneuerbar mit Batteriespeicher stabil betrieben werden konnte.
Subsidiarität bedeutet auch, die Verantwortung für Netzstabilität auf viele Schultern zu verteilen: Weg von wenigen grossen Kraftwerken hin zu “Koordination verschiedener dezentraler Akteure”. Dies fördert Innovation und Beteiligung neuer Akteure wie kommunaler Energieversorger oder Prosumer.
2.2 Herausforderungen eines subsidiären Regimes
Die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips erfordert eine völlig neue Koordinationsstruktur im Energiesystem. Technisch muss sichergestellt werden, dass lokale Regelung und übergeordnete Regelung nahtlos ineinandergreifen, um die Gesamtfrequenz von 50 Hz zu halten. Frequenzabweichungen machen nicht an Zellgrenzen Halt – d.h., obwohl eine Zelle möglichst selbst balanciert, bleibt sie synchron mit dem Verbund. Ein Mechanismus muss definieren, wann die nächsthöhere Ebene eingreift und wie der Informationsaustausch erfolgt.
Regulatorisch ist unklar, wer die Verantwortung auf Verteilnetzebene trägt: Verteilnetzbetreiber (VNB) könnten eine aktive Rolle im Engpassmanagement und lokalen Balancing übernehmen, was jedoch eine Anpassung der heutigen Rollenmodelle bedingt. Aktuell sind die meisten Vorschriften auf zentrale ÜNB-Regelung ausgerichtet; ein „zellulares“ Regime bräuchte klare Vorgaben, wie zellulare Energiemanagementsysteme lizenziert und überwacht werden.
2.3 Wirtschaftliche Anreize
Lokale Bereitstellung von Regelenergie lohnt sich nur, wenn entsprechende Marktmechanismen oder Vergütungen existieren. Ohne Preissignale bis in die Verteilnetzebene hätten lokale Akteure kaum Motivation, ihre Flexibilität zur Verfügung zu stellen. Das Subsidiaritätsprinzip muss daher mit einem passenden Marktdesign verknüpft werden, das sowohl lokale als auch überregionale Marktpreise abbildet. Trotz dieser Herausforderungen wird Subsidiarität als Schlüsselprinzip angesehen: „Regelabweichungen sollen primär an der Quelle behoben und erst sekundär in benachbarten vor- oder nachgelagerten Netzgebieten ausgeglichen werden“. Dieses Leitbild erfordert jedoch erhebliche technische und organisatorische Innovation.
3. Nutzung von Flexibilitäten: Erzeugung, Verbrauch und Speicherung
Ein subsidiäres, dezentrales Stabilitätsregime baut darauf, dass alle verfügbaren Flexibilitäten im Netz aktiv genutzt werden – sei es auf Erzeugungs-, Last- oder Speicherseite. Technisch steht heute ein breites Spektrum an Optionen zur Verfügung:
3.1.1 Flexible Erzeugung
Klassische Regelkraftwerke (Wasserkraft, Gaskraft, Biomasse) bleiben wichtige Quellen von Ausgleichsenergie, doch zunehmend kommen Kleinerzeuger hinzu. Blockheizkraftwerke (BHKW) in Gebäuden oder Biogasanlagen auf dem Land lassen sich kurzzeitig drosseln oder hochfahren, wenn ein lokales Ungleichgewicht auftritt. Auch Wind- und PV-Anlagen können mittels steuerbarer Wechselrichter regelfähig gemacht werden – beispielsweise durch leichte Abregelung der Einspeisung zur Bereitstellung von Frequenzstützung oder durch Nachführung bei Spannungsvorgaben im Verteilnetz. In der Schweiz spielt die Speicherkraft eine besondere Rolle: Pumpspeicherwerke und Speicherseen stellen erhebliche Primär- und Sekundärreserve für den gesamteuropäischen Verbund bereit. Diese Kapazitäten können aber perspektivisch durch dezentrale Assets (zum Beispiel Notstromaggregate) ergänzt werden, um nicht allein auf Grossanlagen angewiesen zu sein.
3.1.2 Flexible Last (Demand Response)
Verbraucher können ihren Strombezug zeitlich verlagern oder modulierbar gestalten, um dem Netz zu helfen. Grosse Industrieanlagen – etwa Kühlhäuser, Elektrolyseure oder Elektroschmelzöfen – sind in der Lage, kurzfristig ihre Leistung zu reduzieren, wenn Frequenzhaltung erforderlich ist. Auch im Gewerbe und Haushalt verbergen sich Flexibilitäten: Elektrische Wärmepumpen können ihre Heizleistung zeitlich ein wenig strecken, Boiler und Kühlgeräte können Temperatureinstellungen innerhalb Toleranzen verschieben und so lastabwerfend wirken. Haushaltsnahe Flexibilität wird durch Digitalisierung nutzbar – etwa über Smart Meter und Lastmanagementsysteme, die dynamische Tarife umsetzen. Studien zeigen, dass die aktive Einbindung von Verbrauchern enorme Einsparpotenziale bietet: Laut einer EU-weiten Analyse könnten Verbraucher bis 2030 rund 71 Mrd. EUR sparen, wenn sie Lasten flexibel verschieben (Studie: Flexibilisierung der Energienachfrage hat Sparpotenzial in Milliardenhöhe – pv magazine Deutschland). Zudem liessen sich bis zu 60 GW an Spitzenkraftwerksleistung einsparen, da Lastspitzen durch Demand Side Management abgedeckt würden – dies entspräche einer Kostenreduktion von ca. 2,7 Mrd. EUR pro Jahr. Diese Zahlen verdeutlichen das wirtschaftliche Potenzial der Verbrauchsflexibilität, sowohl für einzelne Akteure (niedrigere Stromrechnungen) als auch für das Gesamtsystem (weniger Reservekraftwerke).
3.1.3 Speicherung (stationär und mobil)
Batterie-Energiespeichersysteme (BESS) haben in den letzten Jahren grosse Fortschritte gemacht und werden zunehmend strategisch im Netz eingesetzt. Stationäre Grossbatterien können innerhalb von Millisekunden Leistung ins Netz einspeisen oder aufnehmen und eignen sich daher hervorragend für Frequenzhaltung und Schnelligkeitsreserve. Ein Beispiel ist der 10 MW/15 MWh Batteriepark in Bordesholm (D), der primär der Netzstabilisierung dient. Die lokale Stadtwerkegesellschaft nutzt diese Batterie, um Regelenergie bereitzustellen und damit sogar Einnahmen am Regelleistungsmarkt zu erzielen.
Auch in der Schweiz wurden erste Grossbatterien installiert (z.B. Battery Energy Storage in Brunnen SZ), um lokale Spannungshaltung und Notstromversorgung zu unterstützen – mit der Perspektive, solche Speicher künftig am Regelleistungsmarkt partizipieren zu lassen.
Neben stationären Speichern rücken mobile Speicher in Elektrofahrzeugen in den Fokus. Vehicle-to-Grid (V2G) bezeichnet die Rückspeisung von Energie aus E-Fahrzeug-Batterien ins Netz, Vehicle-to-Home (V2H) die Bereitstellung für das eigene Haus. Elektroautos stellen eine riesige potenzielle Ressource dar: Über eine Million E-Pkw in Deutschland verfügen zusammen bereits über 80 GWh Speicherkapazität (zum Vergleich: alle deutschen Pumpspeicherkraftwerke zusammen rund 40 GWh). Schon ein Bruchteil davon, intelligent vernetzt, kann zur Netzstabilität beitragen. Pilotprojekte zu V2G in Europa zeigen vielversprechende Ergebnisse. So konnte am 25. Juni 2023 in Deutschland eine drohende Notsituation abgewendet werden, als binnen Sekunden rund 4.500 E-Autos über intelligente Algorithmen zur Stützung aktiviert wurden und Energie für etwa 20.000 Haushalte bereitstellten. Dadurch musste keine zusätzliche fossile Reserve zugeschaltet werden – ein anschauliches Beispiel, wie “mobile Speicher in Elektroautos als riesiges Kraftwerk” wirken können.
Auch Vehicle-to-Home Konzepte (z.B. bidirektionales Laden zu Hause) erhöhen die Resilienz, da im Notfall ein E-Auto als Haus-Notstromversorgung dienen kann. Wichtig ist die Integration dieser Speichermöglichkeiten in ein Gesamtkonzept: Etwa könnten tagsüber PV-Überschüsse in Heimbatterien und E-Autos zwischengespeichert und abends zur Lastspitze wieder ins Netz gegeben werden. Verteilnetzbetreiber untersuchen bereits, wie sie dezentral verteilte Kleinspeicher aggregieren können. Swissgrid hat hierzu mit Partnern die Crowd-Balancing-Plattform Equigy gestartet, um kleinere Speicher, Elektrofahrzeuge und andere Geräte über Aggregatoren in den Regelleistungsmarkt einzubinden.
Zusammenfassend besteht die Rolle von Flexibilitäten darin, ein dynamisches Gleichgewicht zu ermöglichen: Erzeuger können bei Bedarf gedrosselt oder hochgefahren werden, Verbraucher angepasst und Speicher geladen oder entladen werden. Durch Sektorkopplung (z.B. Einbeziehung von Power-to-Heat, Power-to-Gas) lässt sich das Flexibilitätsspektrum noch erweitern, indem Stromüberschüsse in andere Energieträger umgewandelt werden. All diese Flexibilitäten müssen technisch angebunden werden (IoT, Smart Grid-Steuerungen), ökonomisch angereizt (Tarife, Vergütungen) und regulatorisch erlaubt sein, damit sie im Alltag zuverlässig zur Netzstabilität beitragen können.
4. Zellulares Energiesystem: Struktur, Preissignale und Anpassungen
Das zellulare Energiesystem (ZES) ist ein Organisationsmodell, das das Subsidiaritätsprinzip praktisch umsetzt. Das Gesamtsystem wird in Energiezellen aufgeteilt, die jeweils aus einer Kombination von Erzeugern, Verbrauchern und Speichern in einem bestimmten Gebiet oder einer Einheit bestehen. Eine Zelle könnte z.B. ein Stadtviertel, eine Gemeinde oder ein Industriepark sein – sogar einzelne Gebäude oder Anlagen können als Mikro-Zelle betrachtet werden.
Innerhalb jeder Zelle übernimmt ein Energiezellen-Management die Aufgabe, Erzeugung und Verbrauch möglichst in Echtzeit auszugleichen und Überschüsse oder Defizite kontrolliert mit Nachbarzellen oder der übergeordneten Ebene auszutauschen. Dynamische Preissignale für Netz und Energie sind dabei ein zentrales Steuerungsinstrument: Sie stellen sicher, dass jede Zelle auf Knappheit oder Überfluss reagiert. Konkret würde eine Zelle bei Stromüberschuss niedrige oder negative lokale Preise signalisieren, was z.B. Speicher zum Laden oder flexible Verbraucher zum zusätzlichen Konsum animiert. Umgekehrt führen Knappheiten zu hohen Preissignalen, die Erzeugung anreizen und Lasten reduzieren. Diese marktbasierte Regelung erlaubt es, dezentral Millionen von Entscheidungen zu koordinieren, ohne jede einzelne zentral steuern zu müssen. Wie in der Fachliteratur beschrieben, spielt die Prognose des preisabhängigen Flexibilitätspotenzials aller Verbraucher und Erzeuger eine entscheidende Rolle, um Lastflüsse über Marktmechanismen zu steuern. Jede Zelle kommuniziert ihren Zustand (z.B. aktueller Leistungsüberschuss oder -bedarf) und Preisindikatoren an benachbarte Zellen oder eine Leitstelle. So entsteht ein Statusaustausch zwischen Zellen: Ist Zelle A im Überschuss und Zelle B in Knappheit, können Preissignale einen Energiefluss von A nach B auslösen – sei es durch physischen Stromfluss oder indirekt über Einspeisung ins höhere Netz und Entnahme in B.
4.1 Notwendige technologische Anpassungen
Ein zellulares System erfordert die flächendeckende Digitalisierung der Netze. Echtzeit-Messwerte (Smart Metering) und Kommunikation (IoT-Sensoren, 5G, Glasfaser) sind die Basis, damit die vielen Zellen koordiniert handeln können. Technologien wie die Blockchain können helfen, die Vielzahl dezentraler Transaktionen zuverlässig und fälschungssicher abzuwickeln. Gleichzeitig müssen IT-Sicherheit und Datenschutz gewährleistet sein, da die Steuerungsdaten kritisch sind. Auch Netzschutzkonzepte bedürfen Anpassung: Ein Verteilnetz, das autonom Regelaufgaben übernimmt, muss z.B. Inselbetriebsfähigkeit haben, was neue Schutzrelais und Automatisierungen erfordert.
4.2 Notwendige regulatorische Anpassungen
Regulatorisch steht ein Paradigmenwechsel an. Bisher konzentrieren sich Gesetze und Verordnungen (z.B. StromVG in der Schweiz, EnWG in Deutschland) auf klare Rollen: ÜNB sichern Systembalance, VNB kümmern sich um sichere Verteilung, Endverbraucher sind passiv. In einem ZES verschwimmen diese Grenzen: VNB werden zu aktiven Systemmanagern, Endverbraucher zu Prosumern mit Marktzugang, und neue Akteure wie Aggregatoren vermitteln zwischen ihnen. Daher müssen Regulierungen geschaffen werden, die durch Anpassung des Marktdesigns lokale Flexibilitätsmärkte ermöglichen.
Ein weiterer Aspekt ist die Anreizregulierung der Verteilnetzbetreiber: Hier sollte Regulierung den Einsatz von Flexibilität (z.B. zur Engpassvermeidung) belohnen, damit VNB nicht nur in Kupfer (Netzausbau), sondern auch in Smart-Grid-Lösungen investieren. Letztlich braucht es auch Standardisierung (z.B. Protokolle für Daten zwischen Zellen) und Anpassungen im Ordnungsrahmen, damit zellulare Ansätze mit bestehenden Vorschriften (z.B. Entflechtung, Versorgungspflichten) kompatibel werden.
5. Technische und wirtschaftliche Bewertung eines alternativen Regimes
5.1 Technische Vorteile für Stabilität und Netzsicherheit
Ein dezentral ausgerichtetes Regime erhöht die Systemstabilität auf mehreren Ebenen. Da lokale Zellen Schwankungen eigenständig abfangen, wird das Risiko grossräumiger Störungen verringert und Probleme können isolierter behandelt werden. Die Stromversorgung wird robuster gegenüber Extremsituationen: beispielsweise könnte bei einem Ausfall im Übertragungsnetz eine Region temporär im Inselbetrieb weiterlaufen, bis die Störung behoben ist, ohne dass es dort zum Blackout kommt. Insgesamt verteilt sich die Regelverantwortung auf viele kleine Einheiten, was eine gewisse Redundanz schafft. Fällt ein grosses Kraftwerk aus, können Dutzende Batterien und Lasten einspringen. Diese fragmentierte Bereitstellung von Regelenergie macht das System weniger anfällig für einzelne Fehlerpunkte.
Auch die Frequenzhaltung kann profitieren: Viele kleine, schnell reagierende Ressourcen (Batterien, Lasten) können Frequenzabweichungen oft schneller ausgleichen als träge Grosskraftwerke. In der Summe bleibt die Frequenz näher an 50 Hz, was die Beanspruchung des Netzes reduziert. Zudem sinkt der Bedarf an Notfallmassnahmen wie Lastabwürfen oder weitreichenden Redispatch-Massnahmen, da Engpässe lokal gelöst werden.
Ein weiterer technischer Pluspunkt ist die geringere Leitungsbelastung: Wenn mehr Energie vor Ort verbraucht wird, müssen weniger hohe Ströme über weite Strecken transportiert werden. Das reduziert Übertragungsverluste und thermische Beanspruchungen. Die Versorgungssicherheit steigt ebenfalls, da sich das System selbst bei Krisen resilienter zeigt – das Beispiel Bordesholm (100% erneuerbare Inselversorgung für 1 Stunde) demonstriert eindrucksvoll, dass dezentrale Technik heute schon in der Lage ist, eine Region stabil zu versorgen. In Summe kann ein zellulares, flexibles System genauso zuverlässig arbeiten wie das traditionelle, zentral gesteuerte – wenn nicht sogar zuverlässiger durch die Vielfalt an Stützungsressourcen.
5.2 Wirtschaftliche Vorteile und Effizienzgewinne
Ein alternatives Regime verspricht erhebliche Kosteneinsparungen und Effizienzgewinne im Stromsystem.
Erstens können Netzinvestitionen reduziert oder optimaler eingesetzt werden. Wenn lokale Engpässe durch Flexibilität behoben werden (z.B. Spitzenlast kappen statt Leitung verstärken), müssen Netzbetreiber weniger in rein kapazitätsgetriebenen Ausbau investieren. Studien prognostizieren in einem flexiblen Szenario eine Reduktion der erforderlichen Verteilnetzinvestitionen EU-weit um bis zu 29 Mrd. EUR bis 2030.
Zweitens wird der Einsatz vorhandener Erzeugungsanlagen optimiert: Erneuerbare Überschüsse, die heute mangels Flexibilität oft abgeregelt werden, könnten genutzt werden. Laut einer Untersuchung würde sich die Abregelung von erneuerbarer Energie um 61 % verringern, wenn Nachfrageseite und Speicher umfassend einbezogen werden – das entspräche EU-weit zusätzlichen 15,5 TWh Ökostrom pro Jahr, die statt vergeudet ins Netz kämen. Das erhöht die Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Anlagen und senkt zugleich die CO₂-Emissionen, weil weniger Ersatz durch fossile Erzeugung nötig ist.
Drittens sinken die Betriebskosten für Reservehaltung und Spitzenlast: Durch Lastverschiebung und dezentrale Reserven könnten teure Spitzenkraftwerke vermieden werden. Die erwähnte Studie beziffert die Einsparung auf 2,7 Mrd. EUR pro Jahr, wenn ca. 60 GW an konventioneller Spitzenleistung nicht gebaut werden müssen. Auch die Kosten für Ausgleichsenergie würden drastisch sinken – Schätzungen gehen von 43–66 % geringeren Kosten für die Bilanzierung aus, was EU-weit bis zu 690 Mio. EUR pro Jahr sparen könnte.
Viertens entstehen neue Erlösmodelle für dezentrale Akteure: Haushalte mit PV+Speicher können durch Bereitstellung von Regeldienstleistungen Zusatzeinnahmen erzielen; Elektroautobesitzer könnten Geld dafür bekommen, dass sie dem Netz kurzfristig Strom zurückspeisen. Dieses Crowd Balancing eröffnet Wertschöpfung, die bisher nur Grosskraftwerken vorbehalten war.
Fünftens lässt sich durch intelligente Steuerung die gesamtwirtschaftliche Effizienz steigern: Es werden nur noch diejenigen Flexibilitätsmassnahmen aktiviert, die gerade erforderlich und am günstigsten sind – z.B. schaltet ein Industriebetrieb seinen Prozess nur ab, wenn der Strompreis die entgangene Wertschöpfung übersteigt. So koordiniert ein Preismechanismus die Nutzung aller Ressourcen optimal. Insgesamt resultiert ein volkswirtschaftlicher Nettonutzen: höhere Versorgungssicherheit, geringere Emissionskosten durch bessere Erneuerbaren-Nutzung, vermiedene Investitionskosten und niedrigere laufende Aufwendungen. Diese Vorteile kommen letztlich den Stromverbrauchern zugute in Form stabilerer oder sogar sinkender Netzentgelte und Energiepreise auf lange Sicht.
Natürlich müssen den Einsparungen die Investitionskosten für die benötigte Infrastruktur (Smart Grids, IT-Systeme, Speicher) gegengerechnet werden. Doch verschiedene Untersuchungen legen nahe, dass die Nutzen die Kosten übersteigen, insbesondere da Technologien immer günstiger werden (Batteriekosten sinken, digitale Plattformen skalieren). Beispielhaft zeigte Swissgrid im Pilotprojekt mit einem 1.2 MW-Batteriespeicher, dass der dezentrale Speichereinsatz technisch funktioniert und künftig breiter ausgerollt werden kann. Solche Pilotprojekte helfen, die Wirtschaftlichkeit zu ermitteln. Im Idealfall stellen sich Netzeingriffe als billiger heraus als Netzausbau, wenn Flexibilität clever genutzt wird. Zudem können Regulierer monetäre Anreize (z.B. Flexibilitätsprämien) setzen, um Investitionen auszulösen, wo sie gesamtwirtschaftlich sinnvoll sind.
6. Herausforderungen und Lösungsansätze
Trotz der skizzierten Vorteile gibt es diverse technische, wirtschaftliche und regulatorische Hürden auf dem Weg zu einem dezentralen Ausgleichssystem. Nachfolgend die wichtigsten Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze:
6.1.1 Technische Komplexität & Sicherheit
Die Steuerung von tausenden bis Millionen dezentralen Einheiten erfordert hochentwickelte IT-Strukturen. Eine Kernfrage ist die Interoperabilität – verschiedene Hersteller von PV-Anlagen, Speichern, Wallboxen etc. müssen einheitlich ansteuerbar sein. Hier sind Standards entscheidend (z.B. der neue ISO 15118-20 Kommunikationsstandard für bidirektionales Laden von E-Fahrzeugen). Zudem muss die Kommunikation nahezu in Echtzeit erfolgen; Latenzen oder Ausfälle könnten die Stabilität gefährden. Ein drohendes Problem ist auch die Cybersicherheit: Je mehr Geräte vernetzt sind, desto mehr potentielle Einfallstore für Angriffe gibt es. Ein koordiniertes Lastmanagement könnte z.B. gezielt gestört werden, um Schaden anzurichten. Daher müssen von Anfang an sichere Protokolle, Verschlüsselung und Redundanzen eingebaut werden. Erste Lösungen setzen hier auf Blockchain-Technologie (wie Equigy) für manipulationssichere Transaktionsaufzeichnung, sowie auf Edge Computing in Trafostationen, um auch bei Internetproblemen lokal regeln zu können.
Weiterhin brauchen VNB deutlich mehr Netzüberwachung in ihren Niederspannungsnetzen, um Spannungs- und Lastzustände zu erfassen. Smart-Meter-Gateways können hierzu Daten liefern, aber die Masse an Daten muss auch verarbeitet werden (Stichwort Big Data, KI-Algorithmen wie zum Beispiel von jua.ai zur Prognose). Lösungsansatz: gestufte Automatisierung – zunächst Pilotgebiete mit überschaubarer Gerätezahl, aus denen man lernt (z.B. intelligente Ortsnetzstationen), dann schrittweise Skalierung. Ausserdem sollten Simulationsplattformen (sogenannte digitale Zwillinge des Netzes) entwickelt werden, um die Effekte neuer Steuerungsmechanismen durchzuspielen, bevor sie live geschaltet werden. Hersteller, Netzbetreiber und IT-Firmen müssen eng zusammenarbeiten, um robuste, fehlertolerante Systeme zu bauen.
6.1.2 Wirtschaftliche Anreize und Geschäftsmodelle
Ein dezentralisiertes System funktioniert nur, wenn alle Akteure entsprechende Anreize haben mitzumachen. Heute sind viele Endkunden noch nicht mit dynamischen Tarifen konfrontiert – ohne Preisdruck gibt es wenig Motivation, z.B. die Waschmaschine nachts laufen zu lassen oder das E-Auto erst bei Überschuss zu laden. Tarifmodelle müssen daher angepasst werden: Time-of-Use Tarife, Spitzenlastpreise oder variable Netzentgelte sind mögliche Instrumente, um Flexibilität zu honorieren. Auch Marktzugänge für kleine Flexibilitäten sind bisher schwierig; oft lohnen sich die Transaktionskosten nicht. Hier kommen Aggregatoren ins Spiel, die Kleinanlagen bündeln und als Paket vermarkten. Regulatorisch muss geklärt werden, wie diese Aggregatoren vergütet und in die Bilanzgruppenverantwortung eingebunden werden.
Ein weiteres Thema sind Investitionsanreize: Wer finanziert die vielen Heimspeicher oder Vehicle-to-Grid-fähigen Wallboxen? Ohne verlässliche Geschäftsmodelle zögern private und gewerbliche Investoren. Förderprogramme oder neue Vergütungsmechanismen könnten Anschub leisten (ähnlich wie Einspeisevergütungen für PV in der Vergangenheit). Abrechnungs- und Messkonzepte für bidirektionale Anwendungen stellen ebenfalls eine Hürde dar: Beispielsweise muss bei V2G-Einspeisung geklärt sein, wie diese Energie mengen- und steuerlich behandelt wird, damit der Fahrzeughalter nicht doppelt belastet wird. Als Lösungsansatz bieten einige Länder bereits Net-Metering oder spezielle EV-Tarife an.
Die Schweiz könnte pilotweise «regulatorische Sandkästen» einrichten, in denen neue Abrechnungsmodelle getestet werden. Zudem zeigen Best Practices aus anderen Ländern, dass sich flexible Verbraucher finanziell beteiligen: In Frankreich etwa erhalten Lastmanagement-Anbieter Kapazitätsentgelte, in den USA gibt es Demand-Response-Programme mit direkter Vergütung. Solche Modelle könnten adaptiert werden. Die wirtschaftliche Tragfähigkeit muss sich letztlich einstellen: Wenn die Mehrzahl der Prosumer spürt, dass sie durch Flexibilität sparen oder verdienen, wird das System von selbst skalieren.
6.1.3 Regulatorische und organisatorische Hürden
Die bestehende Gesetzgebung ist häufig noch nicht auf Dezentralität ausgelegt. Beispielsweise fehlen rechtliche Rahmen für Vehicle-to-Grid in vielen Ländern – so auch in Deutschland, wo 2023 trotz Pilotprojekten noch unklare Bedingungen herrschten. Ein Fachartikel konstatierte jüngst, es fehle “noch an rechtlichen Rahmenbedingungen, die eine praktische Anwendung von V2G ermöglichen. Diese sind essentiell, damit die Technologie abheben kann”.
Ähnlich verhält es sich in der Schweiz: Zwar erlaubt das StromVG prinzipiell neue Geschäftsmodelle, doch Details (z.B. zur Rolle von Aggregatoren oder zu lokalen Energiemärkten) sind wenig konkret. Regulierungsbehörden (wie die ElCom in der Schweiz) müssen Richtlinien anpassen, um etwa dem VNB einen Handlungsspielraum für aktives Netzmanagement zu geben. Hier braucht es z.B. Ausnahmen, die es VNB erlauben, Flexibilitätsverträge mit Prosumern abzuschliessen, ohne gegen Entflechtungsregeln zu verstossen. Auch die Koordination zwischen ÜNB und VNB ist ungeklärt: Wenn beide auf dieselben Flexibilitäten zugreifen (ÜNB für Frequenz, VNB für lokale Spannung), muss ein Klarer Ordnungsrahmen Doppelsteuerungen vermeiden. Die Einführung sogenannter Flexibilitätsplattformen könnte hier Abhilfe schaffen, wo ÜNB und VNB ihren Bedarf anmelden und ein Allokationsmechanismus entscheidet, wessen Abruf in einer aktuellen Situation höhere Priorität hat.
Ein Beispiel dafür ist das oben erwähnte Equigy-Projekt, in dem Swissgrid zusammen mit Verteilnetzbetreibern und Aggregatoren die Abläufe für den Einsatz dezentraler Ressourcen testet. Über solche Kooperationen lassen sich regulatorische Grauzonen identifizieren und gezielt adressieren.
Schliesslich sind Genehmigungsprozesse eine Hürde: Von der Installation von Batteriespeichern (Brandschutz, baurechtliche Fragen) bis zur Zulassung neuer Tarife (Zustimmung durch Aufsichtsbehörden) dauert es teils lange. Schneller zum Ziel führt, wenn die Politik klare energie- und netzpolitische Leitplanken setzt, z.B. in Form einer nationalen Strategie für Smart Grids und Flexibilität.
6.2 Best-Practice-Beispiele und Pilotprojekte
In Europa gibt es bereits zahlreiche Projekte, die Wege zur dezentralen Netzstabilisierung erproben. Neben dem genannten C/sells-Projekt (Modellregion Süddeutschland, 2018–2020) sind Beispiele:
- Energiezelle Wildpoldsried (ein bayrisches Dorf, das durch intelligentes Lastmanagement zeitweise Inselbetrieb fahren kann)
- Smart Region Pellworm (eine Nordsee-Insel mit hohem Anteil Erneuerbarer und Speicher-Kraftwerk-Kombination)
- Versorgungsbetriebe Bordesholm (bereits erwähnt, mit 15 MWh Grossbatterie als Rückgrat für lokale 100%-Erneuerbar-Versorgung).
In der Schweiz selbst ist Swissgrid mit Equigy Vorreiter, um schwarmbasierte Regelenergie zu ermöglichen. Im Pilot mit Alpiq 2020 wurde gezeigt, dass sich ein 1,2 MW Batteriespeicher via Blockchain-Plattform erfolgreich als Primärregelleistung betreiben lässt. Anschliessend wurde 2021/22 mit ewz, dem Stadtwerk von Zürich erprobt, wie Hausspeicher, PV-Anlagen, Wärmepumpen und E-Autos koordiniert sowohl den Bedürfnissen des Übertragungsnetzes als auch des Verteilnetzes dienen können. Diese Piloten sind wichtige Lernfelder. Lösungsansätze aus ihnen sind u.a.: standardisierte Schnittstellen für die Einbindung kleiner Anlagen, neue Marktprozesse für die Vorqualifikation und Abrechnung von Kleinstanbietern, sowie der Nachweis, dass moderne IT (Blockchain, Cloud-to-Cloud Kommunikation) die nötige Geschwindigkeit und Sicherheit liefern kann.
Es hat sich auch gezeigt, dass Kooperationen zwischen verschiedenen Akteuren unerlässlich sind – so arbeiten etwa in Integra-Projekten einige ÜNB und VNB europaweit zusammen, um gemeinsame Regeln für Flexibilitätsnutzung zu entwickeln. Die Erfahrungen aus Pilotprojekten sollten nun zügig in dauerhafte Konzepte überführt werden, um aus Insellösungen breiter gültige Standards zu machen.
7. Empfehlungen für den Schweizer Strommarkt (kurz-, mittel- und langfristig)
Abschliessend lassen sich konkrete Massnahmen für die Schweiz formulieren, um die Stabilität der Übertragungs- und Verteilnetze durch neue Mechanismen zu erhöhen. Diese Empfehlungen werden nach Zeithorizont gegliedert:
7.1 Kurzfristig (nächste 1–3 Jahre)
7.1.1 Regulatorische Sofortmassnahmen
Die Schweiz sollte umgehend rechtliche Klarheit für Aggregatoren und flexible Verbraucher schaffen. Eine Anpassung der Stromversorgungsverordnung (StromVV) könnte z.B. definieren, unter welchen Bedingungen Dritte Flexibilität aggregieren und am Regelleistungsmarkt teilnehmen dürfen. Ebenso sollte die Zulassung bidirektionaler Ladestationen vereinfacht werden – aktuell fehlen standardisierte Prozesse, um E-Autos als Einspeiser anzumelden. Die Behörden könnten ferner klarstellen, dass Energie aus E-Fahrzeugen von Abgaben (Netzentgelt, KEV) entlastet wird, um Doppelbelastung zu vermeiden.
7.1.2 Technische Massnahmen
In den kommenden Jahren steht der weitere Rollout von Smart Metern in der Schweiz ohnehin an (80% der Zähler müssen smart sein). Dieser sollte mit Priorität verfolgt werden, da er die Basis für zeitvariable Tarife und Messung flexiblen Verhaltens bildet. Gleichzeitig sollten Pilotprojekte ausgeweitet werden: Swissgrid und Verteilnetzbetreiber könnten weitere Feldtests mit verschiedenen Flexibilitätsressourcen initiieren, z.B. ein Pilotprojekt in ländlichen Netzen mit vielen PV-Anlagen, um dort lokales Flexibilitätenmanagement zu erproben.
7.1.3 Ökonomische Anreize
Kurzfristig können Förderprogramme Anstösse geben – etwa Förderbeiträge für die Installation von Home-Batteriespeichern oder Wallboxen mit V2H/V2G-Funktion, gekoppelt an die Teilnahme an einem Flexibilitätsprogramm. Auch Wettbewerbe oder Prämien für Lastmanagement in Unternehmen (z.B. ein Bonus für jedes kW Last, das ein Industriebetrieb bei Bedarf abwerfen kann) könnten aktiviert werden. Die kurzfristen Massnahmen zielen darauf ab, Hemmnisse abzubauen und erste funktionierende Ökosysteme aus flexiblen Akteuren zu schaffen, ohne gleich das gesamte Marktdesign zu ändern. Wichtig ist zudem die Sensibilisierung aller Beteiligten: Informationskampagnen für Gewerbe und Haushalt, welche Möglichkeiten Demand Response bietet, können die Bereitschaft erhöhen mitzumachen.
7.2 Mittelfristig (ca. 4–10 Jahre)
In diesem Zeitraum sollten strukturellere Änderungen umgesetzt werden.
7.2.1 Marktbasiert
Die Schweiz könnte einen lokalen Flexibilitätsmarkt etablieren, in dem Verteilnetzbetreiber regionale Engpässe durch Gebote von Flexibilitätsanbietern lösen. Dazu wäre eine Plattform nötig, auf der z.B. Quartierspeicher, Unternehmen oder EV-Flotten auf Ausschreibungen des VNB reagieren. Erste Ansätze gibt es in einigen EU-Ländern (GB, NL) – die Schweiz kann hier Best Practices übernehmen.
7.2.2 Regulatorisch
Mittelfristig sollte das Subsidiaritätsprinzip im Regulierungsrahmen verankert werden. Das könnte bedeuten, das StromVG dahingehend zu ändern, dass Verteilnetzbetreiber verpflichtet (und befugt) werden, einen lokalen Ausgleich anzustreben, bevor Hilfe von Swissgrid in Anspruch genommen wird. Swissgrid wiederum müsste eng mit den VNB koordinieren (etwa via Datenplattform in Echtzeit). Zudem sollte die Rolle des Bilanzgruppenverantwortlichen überdacht werden: Vielleicht braucht es in Zukunft auf Verteilnetzebene Sub-Bilanzgruppen oder Zell-Bilanzverantwortliche, die dann gegenüber Swissgrid aggregiert auftreten.
7.2.3 Technisch
Bis 2030 sollte die kommunikationstechnische Infrastruktur so ausgebaut sein, dass jede relevante Netzstation vernetzt ist. Das bedeutet flächendeckende Ausrüstung von Ortsnetzstationen mit Mess- und Steuertechnik und die Einrichtung von Leitsystemen für Mittel- und Niederspannung. Die Einführung eines Echtzeit-Monitorings (z.B. Lastfluss- und Spannungsdaten im 15-Minuten-Takt oder besser) ermöglicht es, dynamische Preissignale überhaupt zu untermauern. Gleichzeitig müssen Standards zur Datenverarbeitung und -sicherheit implementiert sein (Stichwort: Interoperabilität der vielen Smart Grid Komponenten).
7.2.4 Wirtschaftlich
Gegen Ende der 2020er Jahre sollte sich der Fokus von direkten Förderungen hin zu marktbasierten Anreizen verschieben. Dynamische Tarife könnten flächendeckend zur Anwendung kommen – evtl. zunächst freiwillig als opt-in für Kunden, später als Standard. Auch Netzentgelte mit Leistungsanteil (höhere Gebühren bei hoher gleichzeitiger Leistung, geringere bei gleichmässiger Abnahme) könnten eingeführt werden, um Lastglättung zu fördern. Für die Betreiber neuer Flexibilitätseinrichtungen (Batterieparks, Demand-Response-Anlagen) sollte ein verlässliches Geschäftsmodell existieren, z.B. über 5- oder 10-Jahres-Verträge für Regelleistung oder Kapazitätsmärkte, damit sich Investitionen amortisieren.
7.2.5 Organisation
Mittelfristig könnten regionale Energiekooperationen entstehen – z.B. Zusammenschlüsse von Gemeinden, die gemeinsam ihre Energiezellen steuern. Der Regulator könnte solche Energiezellen offiziell anerkennen und in die Netzplanung einbeziehen. Eine entsprechende Weiterbildungsoffensive für Netzbetreiber und Planer ist ratsam, damit Know-how für den Betrieb eines zellularen Systems aufgebaut wird. Die mittelfristige Phase ist entscheidend, um vom Pilotmodus in den Normalbetrieb überzugehen, indem man die Regulierungen schrittweise anpasst und die Infrastruktur bereitstellt.
Mit den Lokalen Elektrizitätsgemeinschaften (LEG) ist in der Schweiz ab 2026 ein erster Ansatz möglich. Allerdings müssten solche Gemeinschaften über Gemeindegrenzen hinweg möglich sein.
7.3 Langfristig (10+ Jahre)
In der langfristigen Perspektive – 2035 und darüber hinaus – sollte das Schweizer Stromsystem die Vision eines dynamischen, digitalen und dezentralen Netzes weitgehend verwirklicht haben.
7.3.1 Technologische Vision
Ein zellulares Energiesystem wäre nun Realität: Jede Zelle (ob Stadtviertel oder Industriebetrieb) operiert mit einem hohen Mass an Autonomie und kommuniziert über standardisierte Schnittstellen mit benachbarten Zellen. Echtzeit-Preissignale könnten zum Alltag gehören, so dass viele Geräte autonom auf Strompreise reagieren (Smart Homes regulieren Verbrauch, E-Fahrzeuge handeln Ladeleistung an Strombörsen im Minutenintervall, usw.). Künstliche Intelligenz und automatisierte Handelsalgorithmen übernehmen die Optimierung, was für den Endnutzer als nahezu unsichtbarer Prozess im Hintergrund abläuft.
7.3.2 Marktdesign
Langfristig könnte ein mehrskaliger Energiemarkt etabliert sein: Lokale Märkte in Verteilnetzen, gekoppelt an übergeordnete Märkte im Übertragungsnetz, alle mit einheitlichen Spielregeln und Kopplungen. Beispielsweise ein Cell-Balancing-Market, der stündlich zwischen Zellen Ausgleichsenergie handelt, zusätzlich zum heutigen Intraday-/Regelenergiemarkt. Die Grenze zwischen „Verbraucher“ und „Erzeuger“ wäre weitgehend aufgehoben – nahezu jeder ist Prosumer und liefert bei Bedarf Energie oder Flexibilität.
7.3.3 Regulatorisch
Das Regulierungsmodell müsste schliesslich die Anreizmechanismen neu austariert haben: Netzentgelte könnten weitgehend leistungspreisbasiert und dynamisch sein, die Regulierung der Netzbetreiber könnte weg vom Asset-Based (CAPEX-orientierten) Modell hin zu einem Output-orientierten Modell gehen, bei dem Zuverlässigkeit und Effizienz belohnt werden (z.B. Bonus für vermiedene Engpässe, für CO₂-Einsparungen durch Flexibilität). Möglicherweise sind bis dahin auch europäische Marktkopplungen so weit fortgeschritten, dass die Schweiz trotz Nicht-EU voll in paneuropäische Flexibilitäts- und Kapazitätsmärkte integriert ist – ein Rahmenabkommen im Energiebereich würde dies erleichtern.
7.3.4 Infrastruktur
Langfristig sollten auch Sektorkopplungseinrichtungen gross skaliert sein: Power-to-X (Wasserstoff, synthetische Treibstoffe) kann Überschüsse aufnehmen und bei Bedarf rückverstromen; Tausende von Vehicle-to-Grid-fähigen E-Autos bilden ein gigantisches verteiltes Speicherreservoir; Gebäude mit Wärmespeichern und intelligenten Wärmepumpen tragen zur Lastverschiebung bei. Damit wäre das Netz in der Lage, 100% erneuerbare Energie zu integrieren, ohne an Stabilität einzubüssen.
7.3.5 Governance
Möglicherweise sind neue Institutionen entstanden, wie z.B. regionale Netzkoordinatoren oder Zell-Manager, die zwischen Swissgrid und den zahlreichen Marktteilnehmern vermitteln. Langfristig wird der Regulator darauf achten müssen, dass Fairness und Effizienz im dezentralen Markt gewahrt bleiben – etwa durch Monitoring, ob alle Verbrauchergruppen Zugang zu den neuen Geschäftsmodellen haben (Stichwort: energiepolitische Teilhabe).
8. Fazit
Zusammengefasst ist die langfristige Empfehlung, die heute visionären Konzepte des zellularen Energiesystems in den Alltagsbetrieb zu überführen. Die Schweiz kann als innovatives, kleines Land hier sogar eine Vorreiterrolle einnehmen, indem sie bei der Integration erneuerbarer Energien konsequent auf Dezentralität und Flexibilität setzt. Die gleichmässige Berücksichtigung technischer, wirtschaftlicher und regulatorischer Aspekte ist dabei essenziell: Nur wenn die Technologie verlässlich funktioniert, die Anreize stimmen und der Ordnungsrahmen passt, wird das neue Regime erfolgreich sein.
Die oben beschriebenen Massnahmen über kurz, mittel und lang sollten aufeinander aufbauen – von ersten Pilot- und Fördermassnahmen hin zur umfassenden Systemtransformation. Die europäischen Nachbarn liefern bereits wertvolle Erfahrungen (von Crowd Balancing bis zellulare Demonstrationsprojekte), die genutzt werden sollten, um die Netzstabilität der Zukunft zu gewährleisten: dezentral, digital und klimafreundlich. Mit diesem Fahrplan kann die Schweiz die Versorgungssicherheit auch bei wachsendem Anteil erneuerbarer Energien hochhalten und gleichzeitig wirtschaftlich profitieren.
Zitierte Quellen
- Wikipedia – Zellulares Energiesystem
- Pv magazin – Studie: Flexibilisierung der Energienachfrage hat Sparpotenzial in Milliardenhöhe
- Fraunhofer – »C/sells« Evaluation of a cellular energy system
Weitere Quellen