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Unser heutiges Energiesystem steht vor großen Herausforderungen und Umbrüchen. Der Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energieträger verändert nicht nur die Art der Stromerzeugung, sondern erfordert ein grundsätzliches Umdenken in der Struktur unserer Energieversorgung. Das Energiezellensystem bietet hier einen vielversprechenden Ansatz, der Versorgungssicherheit, Nachhaltigkeit und lokale Verantwortung in Einklang bringen kann. Es ist ein Konzept, das Komplexität durch dezentrale Funktionseinheiten beherrschbar macht und Stabilität durch verteilte, autonome, aber zusammenwirkende Einheiten gewährleistet. Durch den Aufbau eines vernetzten Systems mit klaren Regeln für die Zusammenarbeit kann die Energiewende effizienter und wirkungsvoller gelingen und gleichzeitig die Robustheit des Gesamtsystems erhöht werden. Die Kooperation zwischen den einzelnen Zellen und Clustern ermöglicht auch die Bündelung systemdienlicher Verhaltensweisen, ohne die Komplexität weiter zu erhöhen.

Von zentralen Kraftwerken zur dezentralen Energielandschaft

Unser bisheriges Energiesystem basierte auf wenigen Großkraftwerken. Die Energie wurde zentral, aber häufig möglichst nahe an den Verbrauchszentren erzeugt und zu den Verbrauchern transportiert. Dieses System hat uns jahrzehntelang zuverlässig mit Strom versorgt. Mit dem notwendigen Ausstieg aus der fossilen Energieerzeugung und der damit verbundenen Energiewende hin zu Millionen kleiner Anlagen, die überwiegend nur wetterabhängig Strom erzeugen können, stößt dieses System jedoch an technische und physikalische Grenzen. Hinzu kommt, dass immer mehr Akteure eingebunden werden müssen, seien es Erzeugungsanlagen, Speicher, Marktakteure oder Flexibilitäten. Dies ist ohne eine umfassende Vernetzung und Digitalisierung nicht möglich, was gleichzeitig die Komplexität deutlich erhöht und völlig neue Herausforderungen mit sich bringt. So ist etwa mit bisher nicht bekannten Nebeneffekten komplexer Systeme, die mit unserem bisher erfolgreichen linearen Denken nicht beherrschbar sind, oder mit der Gefahr von Kaskadeneffekten zu rechnen.

Aktuelle Fehlentwicklungen

Die aktuellen Entwicklungen gehen jedoch paradoxerweise in die entgegengesetzte Richtung: Wir erleben eine Ausweitung des internationalen Stromhandels und eine unkontrollierte Zunahme von Komplexität und wechselseitigen Abhängigkeiten – genau die Ausgangsbasis für potenzielle Katastrophen. Fast jedes Land möchte künftig bei Stromüberschuss exportieren und bei zu geringer Erzeugung importieren. Doch wie soll das funktionieren, wenn alle ein ähnliches Konzept verfolgen?

Darüber hinaus erhöht die Ausweitung des internationalen Stromhandels das Risiko kaskadierender Ausfälle. Denn ein hoher Austausch mit den Nachbarländern bedeutet, dass im eigenen Land zu wenig produziert wird. Kommt es zu einer Störung, kann sich diese auch leichter großflächig ausbreiten, wie wir das am 8. Januar 2021 bei der Netzauftrennung auf dem Balkan gesehen haben. Auch wenn dieses Ereignis glimpflich ausging, war es nur ein Vorgeschmack auf weitere zu erwartende Großstörungen. Paradox ist auch, dass gerade in Deutschland immer häufiger versucht wird, Planungs- und Umsetzungsfehler durch Mikromanagement auszugleichen, wie z.B. mit dem aktuellen Solarspitzengesetz. Dass solche Regelungen nicht von heute auf morgen umsetzbar oder sogar widersprüchlich sind, scheint vielen Verantwortlichen nicht klar zu sein. Auch nicht, dass dadurch eine Reihe von Nebenwirkungen mit verzögerter Wirkung ausgelöst werden. Hier scheint eher aus den Augen, aus dem Sinn zu gelten. Ganz zu schweigen davon, dass die damit verbundene Komplexität von niemandem mehr wirklich überblickt, geschweige denn beherrscht werden kann.

Das Grundproblem ist so gut wie immer die fehlende Programmplanung mit entsprechendem Controlling und Anpassung an sich ändernde Rahmenbedingungen. Während es für den Ausbau auf der Erzeugungsseite, insbesondere bei der wetterabhängigen Stromerzeugung aus Windkraft und Photovoltaik, sehr klare und strikte Vorgaben gibt, gibt es beim Thema Speicherung und Netzaus- und -umbau nur ein Flickwerk, bei dem die Kosten immer mehr aus dem Ruder laufen.

Ein äußerst bedenkliches Vorgehen in einem System, in dem Verbrauch und Erzeugung ständig mit sehr wenig Spielraum ausbalanciert werden müssen und wo die Physik keine groben Fehler verzeiht. Hier wird einfach zu sehr darauf vertraut, dass das bestehende großtechnische System diese Fehler weiterhin erfolgreich ausgleichen kann, ohne zu berücksichtigen, dass laufend Großkraftwerke reduziert oder bei hohen PV- und Windstromeinspeisungen temporär abgeschaltet werden. In der Systemtheorie gilt jedoch: Stabile, komplexe Systeme sind Meister im Puffern von Störungen. Fehlt jedoch die Zeit zur Regeneration, drohen schwere Schäden bis hin zum Systemkollaps.

Aus der Systemtheorie wissen wir auch, dass die Stabilität eines Systems mit der Vernetzung zunimmt. Aber nicht unendlich. Um die Robustheit zu erhalten, braucht es ab einer gewissen Größe Substrukturen, sonst wird das Gesamtsystem instabil und kollabiert. Also genau das Gegenteil von dem, was derzeit mit der Ausweitung des Strommarktes ohne Berücksichtigung der systemischen und physikalischen Rahmenbedingungen passiert.

Das Energiezellensystem – Ein von der Natur inspiriertes Konzept

Um ein stabiles und robustes System zu schaffen, orientiert sich das Energiezellensystem an der Natur: Wie Zellen in Organismen sollen auch im Energiesystem kleine, autonome Einheiten zusammenwirken, um ein größeres Ganzes zu erreichen. Jede „Energiezelle“ versorgt sich zunächst selbst und tauscht bei Bedarf Energie mit den Nachbarzellen aus („atmet“). Das Ganze muss natürlich übergeordnet „orchestriert“ werden, aber ohne die zentralen Steuerungsansätze, wie sie heute verfolgt werden. Es geht vor allem darum, das lokale Handeln mit den übergeordneten Erfordernissen in Einklang zu bringen, um ein Optimum an Systemstabilität und Effizienz zu erreichen. Wie immer im systemischen Umfeld geht es um ein Sowohl-als-auch!

Man kann sich das wie ein großes Orchester vorstellen. Jede Energiezelle ist ein Instrument, das sein eigenes Stück spielt, sich aber gleichzeitig mit den anderen synchronisiert, um ein harmonisches Ganzes zu erzeugen. Die Vernetzung findet statt, indem alle Energiezellen miteinander verbunden werden, aber gleichzeitig ein minimaler und klar definierter Datenaustausch stattfindet, der auch Cyber-Risiken minimiert. Als Informationsquelle dient ein gemeinsamer „Energieklang“, während jede Zelle lokal und autonom agiert. Die Intelligenz ist an den jeweiligen Netzknoten angesiedelt. Dadurch entsteht auch eine dezentrale Netzmanagementstruktur. Zentral ist dabei auch eine Plausibilitätsprüfung an den jeweiligen Netzknoten durch einfache physikalische Messungen, wodurch Fehler oder Manipulationen (z.B. Hackerangriffe) leichter erkannt und mögliche negative Auswirkungen verhindert werden können.

Diese dezentralen Strukturen folgen dem Subsidiaritätsprinzip, nach dem Probleme dort gelöst werden sollen, wo sie entstehen. Die Selbstorganisation solcher Systeme führt zu mehr Ordnung und reduziert die mögliche Tendenz zur Unordnung (Entropie). Ähnlich wie beim Internet, das nach dem Prinzip der Dezentralität entwickelt wurde, geht es nicht darum, alle bestehenden Strukturen zu ersetzen, sondern sie durch einen Bottom-up-Ansatz zu ergänzen und robuster zu gestalten.

Die bisherige Steuerungsstruktur stammt noch aus der Zeit der zentralen Energieverteilung. Eine kleinteilige, dezentrale Netz- und Versorgungsstruktur kann damit jedoch nicht wirkungsvoll gesteuert werden. Im zellularen Ansatz wird die Steuerungsstruktur in die dezentrale Netzstruktur integriert. Ausgehend von den kleinsten Einheiten, den Zellmanagern am Hausanschluss, über einen Clustermanager in der Trafostation bis hin zum übergeordneten Clustermanager im Umspannwerk entsteht eine dezentrale Steuerungsarchitektur, die deckungsgleich mit der physikalischen Netzstruktur ist.  In dieser Größenordnung ist es auch möglich, sinnvoll auf meteorologische Bedingungen zu reagieren und notwendige Ausgleichsmaßnahmen vorzunehmen. Erste Ansätze werden jedoch eher kleiner sein, wie bereits realisierte Industrienetze (Zellen) zeigen. In anderen Regionen, wie z.B. den USA, sind Energiezellen auch als Microgrids bekannt und in der Umsetzung.

Die Schwarmintelligenz als Grundprinzip

Die Funktionsweise des Energiezellensystems basiert auf Regeln, die der Schwarmintelligenz entlehnt sind. Ähnlich wie Vögel in einem Schwarm, die ohne zentrale Steuerung komplexe Formationen bilden können, funktionieren auch Energiezellen nach einfachen Regeln, die in ihrer Gesamtheit ein stabiles System ergeben:

  1. Versuche, den Energiefluss innerhalb deiner Zelle/Zellhaufen auszugleichen.
  2. Unterstütze nach Möglichkeit benachbarte und übergeordnete Zellen/Zellcluster.
  3. Wenn die Unterstützung durch benachbarte Zellen/Zellcluster nicht ausreicht, schütze dich selbst.

Mit diesen Regeln kann die zunehmende Komplexität des zentralen Systems in ein dezentrales, sich selbst stabilisierendes zelluläres System mit hoher Resilienz überführt werden. Die interagierenden Teilnehmer handeln nach einfachen Regeln und schaffen so Ordnung im Chaos ohne zentrale Steuerung.

Der besondere Charme dieses Ansatzes liegt darin, dass er im laufenden Betrieb bottom-up umgesetzt werden kann, ohne das Gesamtsystem zu gefährden. Dabei können auch verschiedene Zellenkonzepte ausprobiert werden, da es nicht nur eine Lösung gibt. Auf diese Weise wäre es möglich, den derzeitigen chaotischen Ansatz zügig durch einen strukturierten Ansatz zu ersetzen.

Ein weiterer pragmatischer Ansatz wäre, dass jeder, der am Strommarkt teilnehmen möchte, in der Lage sein muss, für eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Jahr und im Rahmen eines festgelegten CO₂-Budgets garantiert Strom liefern zu können. Dies würde automatisch zu Kooperationen führen und viele Probleme würden sich ohne Mikromanagement und hohe Kosten von selbst lösen.

Vorteile des Energiezellensystems

Das Energiezellensystem bietet zahlreiche Vorteile gegenüber dem herkömmlichen zentralisierten Ansatz:

  1. Erhöhte Stabilität und Ausfallsicherheit

Ein wesentliches Merkmal ist die erhöhte Störfestigkeit und die Fähigkeit, Störungen schneller zu beheben, da ihre Ausbreitung begrenzt werden kann. Im Falle einer größeren Störung können sich die Energiezellen vom übergeordneten Netz abkoppeln und mit einer vordefinierten reduzierten Leistung autonom weiterarbeiten, z. B. zur Versorgung lebenswichtiger Infrastrukturen. Dies reduziert die Auswirkungen von möglichen Stromausfällen erheblich. 

Bei dem heute geplanten Verfahren werden die lokalen Endgeräte (z.B. Wärmepumpen, Ladestationen, Batteriespeicher) von wenigen zentralen Rechenzentren oder Leitwarten aus gesteuert. Bei Kommunikationsausfall oder Fehlern bleiben die Schaltzustände im zuletzt ermittelten Ist-Zustand erhalten. Eine eingeschaltete Photovoltaikanlage speist also unabhängig vom möglichen Bedarf ein. Hinzu kommt, dass in vielen Verteilnetzen die für eine wirkungsvolle Steuerung notwendige Digitalisierung fehlt. Ganz zu schweigen von der Beherrschbarkeit bei einem eventuellen Netzwiederaufbau.

Im zellularen Energiesystem werden zwei Ausfallmodi unterschieden. Der Ausfall kann sich auf die überregionale Kommunikation auswirken oder – im schlimmsten Fall – zu einem Totalausfall der Kommunikation führen. Wenn die Kommunikation auf lokaler Ebene möglich ist, werden Daten so weit wie möglich ausgetauscht. Der Clustermanager, der den Kommunikationsausfall erkennt, arbeitet mit seinen lokal gemessenen Netzzustandsparametern weiter und passt sein Verhalten an diese gemessenen Parameter des vorgelagerten Netzes an. Intern betreibt und steuert der Clustermanager seine untergeordneten Cluster- und Zellmanager und sein Netz weiter und verhält sich nach außen netzdienlich. Ein Totalausfall der Kommunikation führt dazu, dass die Cluster- und Zellmanager keine Daten und Informationen austauschen können. In diesem Modus arbeiten die Cluster- und Zellmanager auf Basis der jeweils lokal gemessenen Parameter weiter und behalten ihre Schutzfunktionen bei. Diese dezentrale Architektur bietet neben der potenziellen Eignung für den lokalen oder regionalen Inselbetrieb auch viele Vorteile bei der Neugestaltung des Übertragungs- und Verteilnetzes. Durch die dezentrale Intelligenz werden nicht große Netzbereiche auf einmal wieder mit elektrischer Energie versorgt, was zu erheblichen Problemen bei der Netzstabilität führt, sondern die Wiederzuschaltung erfolgt kleinteilig, kontrolliert und ohne große Lastsprünge.

  1. Bessere Integration erneuerbarer Energien

Dezentrale funktionale Strukturen erleichtern die Integration erneuerbarer Energien erheblich. Durch lokale und sektorübergreifende Speicherlösungen (Batterien, Wärmespeicher oder Elektroautos) und ein sektorübergreifendes Energiemanagement können Bedarfsschwankungen bereits auf lokaler Ebene bestmöglich ausgeglichen werden. Dies reduziert den Bedarf an teurem und umstrittenem Netzausbau. Das zentrale Element ist dabei das Energiemanagement, das in der öffentlichen Diskussion bisher kaum vorkommt.

Der zellulare Betrieb erfordert auch ein „Versicherungssystem“, das diejenigen belohnt, die effizient und systemdienlich arbeiten. Größere Abweichungen, die auch die Nachbarzellen belasten können, müssen mit Sanktionen belegt werden, um Anreize für eine umsichtige Betriebsführung zu schaffen. Damit soll das heute übliche Handeln auf Kosten der Allgemeinheit unterbunden werden. 

Die bisherige Praxis, dass eine einmal bezahlte Netzanschlusskapazität dazu berechtigt, jederzeit so viel Energie wie möglich zu beziehen, ist in einem regenerativen Energiesystem weder zeitgemäß noch netzdienlich. Reine variable Strompreise bilden den Aufwand nur unzureichend ab. Vielmehr sollte bei Energieüberschüssen eine Erhöhung der Bezugsleistung ohne höhere Anschlusskosten möglich sein. Umgekehrt sollte die rund um die Uhr bereitgestellte und gesicherte Leistung durch Kostenanreize minimiert werden. Damit werden die tatsächlichen Bereitstellungskosten für die Netzinfrastruktur verursachergerechter zugeordnet und Anreize für netzdienliches Verhalten geschaffen.

  1. Erhöhte Energieeffizienz

Die dezentrale Energieerzeugung ermöglicht die Nutzung oder bessere Einbindung von Abwärme, die in zentralen Kraftwerken oft ungenutzt an die Umwelt abgegeben wird. Da die Energieerzeugung näher an den Verbrauchern stattfindet, werden zudem die Verluste während des Transports minimiert, was dezentrale Systeme ressourcenschonender macht.

  1. Stärkung lokaler Wirtschaftskreisläufe

Die dezentrale Energieversorgung schafft in vielen Regionen Arbeitsplätze und fördert die lokale Wirtschaftsentwicklung. Menschen sind jedenfalls eher bereit, sich im Rahmen ihrer Energiezelle den Notwendigkeiten anzupassen, als wenn eine „Steuerung von außen“ erfolgt. Lokale Gemeinschaften können auch an Entscheidungsprozessen beteiligt werden und von der Wertschöpfung profitieren. Damit wird auch eine wichtige soziale Funktion adressiert.

  1. Energieautonomie und Preisstabilität

Wer auf dezentrale Energieerzeugung und -versorgung setzt, kann sich zumindest teilweise von den Preisschwankungen am Strommarkt abkoppeln. Dies erhöht auch die Planungssicherheit für Unternehmen. Mit dem zellularen Ansatz ist es auch möglich, lokale und regionale Netzengpässe oder -überschüsse mit Marktanreizen zu verknüpfen und besser auszugleichen. Der heutige Strommarkt darf die physikalischen Realitäten ignorieren und von einer „Kupferplatte“ als Handlungsgrundlage ausgehen, was etwa zu erheblichen Redispatchkosten führt, die der Allgemeinheit und nicht den Verursachern aufgebürdet werden. Ein fairer Strommarkt muss daher die physikalischen Möglichkeiten und Grenzen des Netzes berücksichtigen und eine verursachergerechte Kostenzuordnung sicherstellen.

Herausforderungen bei der Umsetzung

Trotz aller Vorteile bringt das Energiezellensystem auch einige Herausforderungen mit sich:

  1. Anfangsinvestitionen vs. Langfristige Kosten

Die Errichtung einer Energiezelle kostet natürlich zunächst Geld, da zusätzliche Betriebsmittel, Steuerungseinrichtungen oder ein Energiemanagementsystem benötigt werden. Wie bei Infrastrukturprojekten üblich, braucht es einen langen Atem, bis sich die Kosten amortisieren. Daher ist auch hier ein längerfristiger Bewertungsmaßstab notwendig. Wir müssen anfangen, derartige Investitionen nach ihren Lebenszykluskosten zu bewerten. Der Bau einer Produktionshalle mit einer schlecht gedämmten Gebäudehülle und einer Hochtemperaturgasheizung ist in der Investition sicherlich günstiger als ein gut gedämmtes Gebäude mit einer Niedertemperaturwärmepumpe. Über die Lebensdauer von 50 Jahren und mehr spart das effizientere Gebäude jedoch ein Vielfaches der anfänglich höheren Investitionskosten ein.

Bis zur Energiekrise war dies preislich kaum darstellbar. Mit den seitherigen Preissteigerungen und der absehbar zunehmenden Volatilität ändert sich dies. Vor allem wird die chaotische und unsystematische Umsetzung der Energiewende absehbar immer teurer. Ganz zu schweigen von den Kosten, wenn etwas Größeres schiefgehen sollte, was aus heutiger Sicht nur eine Frage der Zeit ist.

  1. Technologische Komplexität

Die Integration verschiedener Energiequellen und deren Steuerung ist durchaus komplex. Aus der Praxis ist bekannt, dass die Integration der verschiedenen Systeme oft große Herausforderungen mit sich bringt. Hier ist eine bessere Standardisierung erforderlich. Obwohl seit über 15 Jahren von Smart Grids die Rede ist, scheint hier noch wenig passiert zu sein. Gleichzeitig führt kaum ein Weg daran vorbei, da die heute praktizierte zentrale Steuerung zunehmend an ihre Grenzen stößt oder viele kostspielige Nebenwirkungen mit sich bringt.

  1. Regulatorische und rechtliche Hürden

Die Umsetzung dezentraler Strukturen wird derzeit durch bestehende Gesetze und Verordnungen behindert, da diese starr auf das zentrale Energieversorgungssystem ausgerichtet sind. Hier ist ein Umdenken in der Politik und Regulierung dringend erforderlich, um die regulatorischen Rahmenbedingungen an die neuen Technologien und Konzepte anzupassen. Gerade in Zeiten großer Umbrüche braucht es mehr Freiheitsgrade und nicht mehr Detailregulierung und Mikromanagement, wie das derzeit praktiziert wird.

  1. Finanzierungsfragen

Der oft konstruierte Widerspruch zwischen der Solidarität im Verbund und dem vermeintlichen Egoismus bei der Realisierung einer Energiezelle beruht auf den bisherigen kostenintensiven Einzelmaßnahmen, einer unzureichenden Umsetzung („Energiegemeinschaften“) oder der derzeitigen Finanzierungsgrundlage des gemeinsamen Netzes.

Dies sind auch die negativen Begleiterscheinungen der Marktliberalisierung, die zu einer Fragmentierung des Versorgungssystems führt. Niemand fühlt sich mehr wirklich für das Gesamtsystem verantwortlich. Auf der anderen Seite steht der Glaube an eine zentrale Steuerung. Auch wenn das Modell der Marktliberalisierung über zwei Jahrzehnte sehr erfolgreich war und zu sinkenden Preisen geführt hat, haben sich die Rahmenbedingungen inzwischen grundlegend geändert. Mehr vom Gleichen führt daher nicht zu etwas Besserem, sondern absehbar ins Chaos. Nur durch systemisches Denken und Umsetzen der Energiewende können wir die zunehmende Komplexität beherrschbar halten, es sei denn, wir hebeln die Naturgesetze und Erkenntnisse der Evolution aus.

Der Weg zu einem solidarischen Energiesystem

Ein zellulares Energiesystem ist keineswegs unsolidarisch, ganz im Gegenteil. Es basiert auf gegenseitiger Unterstützung und geteilter Verantwortung: Endverbraucher, Betreiber dezentraler Erzeugungs-, Speicher- und Umwandlungsanlagen tragen gemeinsam zur dezentralen Versorgungssicherheit bei. Das Subsidiaritätsprinzip sorgt dafür, dass Probleme dort gelöst werden, wo sie entstehen. Dadurch werden übergeordnete Strukturen entlastet und Ressourcen effizienter und vor allem wirkungsvoller genutzt. Der Bedarf an übergeordneter Infrastruktur und teuren Ausgleichsmaßnahmen sinkt.

Eine Chance für eine nachhaltige Zukunft

Das Energiezellensystem bietet somit die Chance, die Energiewende ganzheitlich und zukunftssicher zu gestalten. Sie erfordert große Anstrengungen, bietet aber auch enorme Chancen für Innovation und Nachhaltigkeit.

Die Energiewende ist nicht nur eine Technikwende, sondern vor allem eine Kulturwende. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Das großtechnische System wird uns sicher noch viele Jahrzehnte eine wichtige Stütze sein und ist in vielen Bereichen unverzichtbar. Durch einen dezentralen Bottom-up-Ansatz kann jedoch die Robustheit des Gesamtsystems im laufenden Betrieb erhöht werden.

Letztlich ist unser hochoptimiertes Großsystem zwar effizienter als ein zellularer Ansatz, aber nur so lange, bis es durch irgendein Ereignis zu einer überregionalen Großstörung kommt, die nicht innerhalb weniger Stunden behoben werden kann. Sicherheit und Redundanz kosten Geld, aber gerade in der Stromversorgung, wo eine derart hohe und kritische Versorgungsabhängigkeit für unsere Gesellschaft besteht, darf dies keine Frage von „nice to have“ sein, sondern ist eine Überlebensfrage.

Die sich massiv verändernde Erzeugungslandschaft erfordert angepasste, robuste Strukturen. Das Energiezellensystem bietet einen Weg, dieser Herausforderung zu begegnen und dabei Resilienz, Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu vereinen. Es liegt nun an uns allen, diesen Wandel aktiv mitzugestalten. Das Energiezellensystem ist keine ferne Utopie, sondern eine praktische und effiziente Lösung für die Herausforderungen unserer Zeit.

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Die Autoren

Josef Bayer ist Geschäftsführer der EnSolVision GmbH (www.ensolvision.de) und ein führender Experte für regenerative Energiesysteme und zukunftsfähige Energiekonzepte. Seit 1995 hat er in leitenden Positionen umfangreiche Erfahrungen in Planung, Projektmanagement und Forschung gesammelt. Als Vorsitzender der VDE ETG AG „Planung zellulare Energiesysteme“ prägt er die Standards für Energiezellen und hat zahlreiche Fachpublikationen zu Resilienz und Flexibilität im Energiesystem veröffentlicht. Mit seinem Team unterstützt er Unternehmen und Kommunen bei der Umstellung auf sichere, regenerative Energieversorgung – stets angetrieben von der Vision einer CO₂-neutralen Zukunft.

Herbert Saurugg, MSc, ist ein international anerkannter Experte für Blackout- und Krisenvorsorge (www.saurugg.net) sowie der Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge (www.gfkv.org). Der ehemalige Berufsoffizier widmet sich seit 2011 der systemischen Betrachtung gesellschaftlicher Verwundbarkeiten gegenüber Infrastruktur- und Versorgungsausfällen mit besonderem Fokus auf das europäische Stromversorgungssystem. Seine zentrale Basis ist die Auseinandersetzung mit komplexen Systemen und den Auswirkungen einer ignorierten Realität und wie diese Entwicklungen trotzdem beherrschbar gehalten werden können. Er hat dazu zahlreiche Fachpublikationen veröffentlicht und ist als freiberuflicher Keynote-Speaker und Prozessbegleiter tätig.

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