Quelle: https://background.tagesspiegel.de von Lion Hirth, Professor für Energiepolitik 

Der Solarzubau boomt – Deutschland hat sein 2024-Ziel für den PV-Ausbau bereits Mitte Mai erreicht. Die zusätzliche Leistung birgt aber auch Risiken: Die Gefahr von schwerwiegenden Störungen im Stromsystem wachse ebenso wie die Kosten für die Volkswirtschaft, warnt Lion Hirth. Alle neu installierten Solaranlagen müssten daher bei Stromüberschuss abregeln können, fordert der Energieökonom von der Hertie School.

Mit einem Zubau von 14 Gigawatt im Jahr 2023 entfaltet die Solarenergie eine besonders hohe Dynamik, die sich im Jahr 2024 unvermindert fortsetzt. Rund 20 Prozent davon erhalten die gleitende Marktprämie und etwa 10 Prozent gar keine Förderung. Rund 70 Prozent der neu installierten PV-Leistung entfallen auf Dachanlagen kleiner als 100 Kilowatt, die eine feste Einspeisevergütung erhalten. Stand Juli 2024 dürften so rund 60 GW PV-Leistung dem Einspeisetarif unterliegen.

Rund 10 Prozent der neuen Leistung in der Einspeisevergütung sind Volleinspeiser, während rund 90 Prozent einen Teil des erzeugten Stroms zur Deckung des Eigenverbrauchs nutzen. Insbesondere bei Einfamilienhäusern werden bei Eigenverbrauchskonzepten in der Regel Hausspeicher eingesetzt; so werden derzeit rund 80 Prozent aller neuen PV-Anlagen mit einer Batterie ausgestattet.

Die Erzeugung von Strom aus Sonnenenergie kostet im Betrieb nichts. Daher ist es sinnvoll, dass die Anlagen immer so viel Strom wie möglich produzieren – außer wenn der Börsenpreis unter null fällt. Bei negativen Preisen verursacht die Stromproduktion volkswirtschaftliche Kosten, sodass es sinnvoll ist, die PV-Anlage abzuregeln.

Im Gegensatz zu thermischen Kraftwerken können Photovoltaik-Anlagen im Prinzip einfach, schnell und ohne Kosten ab- und zugeschaltet werden. Solaranlagen außerhalb der Förderung tun genau dies, und auch Anlagen in der gleitenden Marktprämie haben einen Anreiz abzuschalten, sobald der Strompreis deutlich negativ wird.

Anlagen im Einspeisetarif zeigen ein solches Verhalten jedoch in der Regel nicht – sie produzieren auch bei negativen Börsenpreisen weiter. Dies liegt auch an den Anreizen der Vergütung: Volleinspeiser erhalten immer den gleichen Einspeisetarif je eingespeister Kilowattstunde, haben also grundsätzlich immer einen Anreiz, in jeder Situation Strom zu erzeugen – unabhängig vom Börsenpreis.

Auch Eigenverbrauchsanlagen haben in aller Regel einen Anreiz zur Stromerzeugung bei negativen Strompreisen, weil sie entweder den Einspeisetarif erhalten (wenn sie einspeisen) oder den Endkunden-Strompreis ersetzen (wenn sie eigenen Verbrauch decken). Einspeisevergütungs-Anlagen sind also blind für Marktpreise.

Mit zunehmender ungeregelter Solarleistung ist ein Stromüberschuss ohne Markträumung bereits im Frühsommer 2025 nicht auszuschließen, zum Beispiel bei sonnigem und windigem Wetter über Ostern oder Pfingsten.

Was passiert, wenn der Markt nicht räumt? In einem solchen Fall würden die Übertragungsnetzbetreiber zunächst Regelleistung aktivieren, von der in Deutschland allerdings nur circa 3 GW vorgehalten werden. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, um Stromeinspeisung und -entnahme auszugleichen, würde die Frequenz im europäischen Verbundnetz ansteigen, was die Aktivierung von Primärregelleistung zur Folge hätte, von der europaweit 3 GW vorgehalten werden.

Wenn die Übertragungsnetzbetreiber diese regulären Maßnahmen ausgeschöpft haben und die Netzfrequenz trotzdem weiter ansteigt, werden durch die Überfrequenz automatisch Stromerzeuger vom Netz getrennt. Parallel dazu müssten die Übertragungsnetzbetreiber mit Notfallmaßnahmen reagieren, gegebenenfalls auch mit der Abschaltung solcher Verteilnetze, aus denen viel Strom rückgespeist wird. Diese Situation bedeutet zwar keineswegs automatisch einen flächendeckenden Ausfall des Stromsystems (Blackout), jedoch steigt die Gefahr einer schwerwiegenden Störung in einem derart gestressten System stark an.

Neben den Risiken für die Systemsicherheit verursacht die Stromerzeugung zu negativen Börsenpreisen volkswirtschaftliche Kosten. Ein immer größerer Anteil des Solarstroms wird in Zeiten negativer Preise erzeugt – im laufenden Jahr sind es bereits 20 Prozent. 

Noch gravierendere Kosten fallen an, wenn der Markt tatsächlich nicht räumt. Die Verkaufsgebote der ÜNB, die die Erzeugung aus dem Einspeisetarif an der Börse verkaufen, werden dann nur Pro Rata zugeteilt, sodass ein Teil davon als Unterdeckung in der Ausgleichsenergie landet. Hier wären in einer derartigen Situation Preise von -100.000 €/MWh und mehr vorstellbar. Dies könnte Kosten von Hunderten von Millionen Euro verursachen – in einer einzelnen Stunde! [Anmerkung: derzeit ist die Ober-/Untergrenze bei +/- 15.000 €/MWh]

Bei einem Solarzubau von 15 GW pro Jahr, einem Einspeisetarifanteil von 70 Prozent und einem Gleichzeitigkeitsfaktor von 60 Prozent steigt die Solar-Einspeisespitze um 6 GW pro Jahr an. Eine Verlangsamung des Zubaus oder eine Verlagerung in die Direktvermarktung sind derzeit nicht absehbar.

Ob es zu einem Stromüberschuss kommt, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, insbesondere von Angebot, Nachfrage, Speichern und Export/Import. Selbst bei günstiger Entwicklung all dieser Faktoren ist es aber bei der aktuellen Lage nur eine Frage von wenigen Jahren, bis die Gefahr von Stromüberschüssen deutlich zunimmt.

Anmerkung: Siehe auch Heimspeicher – Nicht so toll, wie du denkst.

👉 Nachdem nun immer mehr Akteure vor diesem Problem warnen, die alles andere als Warner sind, sollte man langsam hellhörig werden!