Unser Stromnetz stößt nach jüngsten Berichten immer mehr an seine Grenzen. Der Ausbau des Übertragungsnetzes wird als einzige mittel- bis langfristige Lösung beschrieben, die hohen Kosten für Redispatch-Maßnahmen zu reduzieren. Nur durch den Ausbau von Leitungen und Umspannwerken könne die Energiewende erfolgreich umgesetzt werden. Nicht nur die Begründungen, sondern auch die Zahlen variieren je nach Verfasser. Ist dieser Netzausbau wirklich unumgänglich oder gibt es Alternativen? Darüber wird kaum berichtet, auch eine kritische Reflexion ist kaum wahrnehmbar. Als interessierter Laie könnte man daher schnell zu dem Schluss kommen: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel“.
WIFO-Chef Gabriel Felbermayr fragt in einem aktuellen Bericht, wie „der Staat“ die absehbar starken Strompreiserhöhungen durch steigende Netzentgelte infolge des geplanten massiven Infrastrukturausbaus stoppen kann. Die derzeit kommunizierten Zahlen schwanken zwischen 20 und 60 Milliarden Euro allein für den Netzausbau. In Deutschland sind die Zahlen nochmals um ein Vielfaches höher. Die Kosten für die dann zusätzlich notwendigen Erzeugungsanlagen und die noch viel höheren Investitionen für die Speicherung von Strom aus volatilen Erzeugungsanlagen sind darin noch gar nicht enthalten. Ein Gesamtkonzept scheint es nicht zu geben, stattdessen wird an einzelnen Baustellen herumgedoktert. So wird die Energiewende aber weder technisch funktionieren noch bezahlbar bleiben.
Das Konzept des getrennten Denkens und Handelns, das mit der Marktliberalisierung vor mehr als 20 Jahren EU-weit eingeführt wurde, um die Kosten zu senken, hat sich voll und ganz durchgesetzt. Niemand ist wirklich für das System als Ganzes verantwortlich und jeder versucht natürlich, für seinen Bereich das Beste herauszuholen. Dazu wurden in den letzten 20 Jahren die von den Vorgängergenerationen in weiser Voraussicht aufgebauten Reserven still und heimlich abgebaut und gleichzeitig gute Ergebnisse erzielt und die Kosten gesenkt. Doch langsam kommt der Zahltag und der wird teuer. Jetzt müssen nicht nur neue Elemente auf allen Ebenen hinzugefügt werden, sondern auch die zum Teil kaputt gesparte, überalterte Infrastruktur muss gleichzeitig und schnell an die neuen Herausforderungen angepasst werden. Um bei all dem die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, fordert die EU einen massiven Ausbau des grenzüberschreitenden Stromhandels, der zwar im Alltag zu günstigeren Ausgleichsmaßnahmen führt, aber die Störanfälligkeit des Systems nicht verringert. Der Markt hat höchste Priorität, ein systemisches Denken ist nicht erkennbar bzw. werden wesentliche Nebenwirkungen ausgeblendet.
Aus Sicht der Netzbetreiber ist der Netzausbau selbstverständlich unverzichtbar. Hier schlägt dann das Bild von Hammer und der Nagel voll zu, weil die Regulierung sehr enge Grenzen setzt. Netzbetreiber dürfen keine netzdienlichen Speicher betreiben, weil das Gesetz die Entflechtung von Stromerzeugung, -transport und -vertrieb vorsieht. Die Angst, Netzbetreiber hätten einen Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmen, die Speicher betreiben, könnten Speicher nutzen, um andere Unternehmen zu benachteiligen, verhindert sinnvolle Entwicklungen. Als Ergebnis wird die Regulierung des Marktes immer komplexer. Ganz nebenbei wird der Netzausbau auch noch mit sehr hohen Renditen vergütet. Ohne Risiko, denn die Kosten tragen die Endkunden.
Es wäre allerdings unfair, den Netzbetreibern böse Absichten zu unterstellen. Denn auch wir alle haben unseren Anteil an der Misere, weil die wenigsten die wirklichen systemischen Zusammenhänge kennen oder sich, wenn überhaupt, nur für den eigenen „Vorgarten“ oder besser, das eigene Dach interessieren. Es reicht eben nicht, eine Photovoltaikanlage zu installieren. Für das gesamte Funktionieren braucht es dezentrale Funktionseinheiten, also Systeme, in denen Erzeugung, Speicherung und Verbrauch dezentral ausbalanciert werden kann, und zwar zu möglichst jedem Zeitpunkt. Denn diese Balance muss zu 31,5 Millionen Sekunden pro Jahr sichergestellt werden können.
Speicher rechnen sich nicht, hört man oft genug. Für ein sektorübergreifendes Energiemanagement fehlen Lösungen und die Fähigkeit zum vernetzten Denken. Und solange dies nicht in den Köpfen angekommen ist und entsprechende Lösungsansätze fehlen, bleibt wohl nur ein überdimensionierter Netzausbau, der daraufhin optimiert wird, praktisch jede Ausnahmesituation abfedern zu können, auch wenn diese nur für eine sehr überschaubare Anzahl von Stunden im Jahr zutrifft. Dabei geht es vor allem darum, die in bestimmten, meist kurzen Zeiten immer größer werdenden dezentralen Stromüberschüsse abtransportieren und verteilen zu können. Dies ist die unausweichliche Folge der räumlichen Distanz zwischen Stromerzeugung und Verbrauchern. Damit die Versorgungssicherheit garantiert bleibt, müssen gleichzeitig auch noch irgendwo zuverlässig verfügbare Ersatzerzeugungsanlagen bereitgehalten werden, die jederzeit einspringen können, um die letzten Prozente zur fehlenden „Autarkie“ ausfüllen zu können. Dafür wollen diese Kunden natürlich nicht bezahlen. Und die Erzeuger auch nicht, da sie ja die meiste Zeit ihren günstigeren Strom aus erneuerbaren Energien erzeugen. Die Infrastruktur, die nötig ist sowohl dezentral als auch regional erzeugten Strom aus erneuerbaren Energien plus die der Rückfallkraftwerke aufzunehmen und abzutransportieren, muss aber trotzdem zu jeder Zeit zur Verfügung stehen.
Der Netzausbau ist ein wichtiger Teil der Energiewende, aber nicht der einzige. Eine Kombination aus verschiedenen Maßnahmen ist erforderlich, um eine sichere und vor allem eine bezahlbare Energieversorgung zu gewährleisten. Wenn wir wirklich Unabhängigkeit und Eigenverantwortung auch bei der Preisentwicklung erreichen wollen, dann müssen wir dezentrale Funktionseinheiten („Energiezellen“) fordern und auch umsetzen. Das erfordert natürlich Aufwand und auch langfristige Planungs- und Investitionshorizonte. Nebenbei: Energiegemeinschaften sind in der Tat keine funktionalen Energiezellen, sondern vielmehr bloße Abrechnungseinheiten. Sie dienen dazu, den gemeinschaftlichen Verbrauch und die Erzeugung von Energie zu organisieren und zu verwalten. Obwohl sie ein gutes Gewissen vermitteln können, sind sie technisch gesehen nur begrenzt systemdienlich.
Das bedeutet, wir brauchen wieder Energieversorgungsunternehmen, die diese ganzheitliche, sektorübergreifende Planung und Umsetzung realisieren und betreiben können. Zusätzlich brauchen wir viele Energiesystemmanager, die das umsetzen können. Wir brauchen nicht viele Einzelakteure und Installateure, die nur ihr Ding machen und sich für den Rest und die Zusammenhänge nicht interessieren. Denn die zentrale Herausforderung der Energiewende ist nicht der Ausbau von Netzen, Erzeugungsanlagen oder Speichern, sondern ein nachhaltiges Energiemanagement mit möglichst wenig fossilen und möglichst viel erneuerbaren Energien, um eine sichere, wirtschaftliche und umweltverträgliche Energieversorgung zu gewährleisten. Dafür müssen wir aber dringend bestehende Denksilos aufbrechen, und das fängt bei der Regulierung und der Ausbildung an.
Solche „Energiezellen“ erhöhen auch die Robustheit des Gesamtsystems. Denn je mehr Probleme dort gelöst werden können, wo sie entstehen, desto weniger übergreifender Aufwand ist erforderlich. Dies gilt auch für den Netzausbau. Natürlich sind auch hier Investitionen notwendig, denn in der Energiezelle muss auch geregelt und gesteuert werden, was heute praktisch nicht möglich ist, weil die notwendige Sensorik fehlt. Die fehlt doch schon im heutigen System in vielen Bereichen. Eine zentrale Steuerung, wie sie im Smart Grid-Konzept vorgesehen ist, ist aber ein absolutes No-Go. Eine zentrale Steuerung ist anfällig für Ausfälle. Versagt das zentrale System, kann dies zu erheblichen Problemen führen, da die gesamte Energieversorgung davon abhängt. Es ist leichtsinnig, zu vernachlässigen, dass ein zentrales System ein attraktives Ziel für Hackerangriffe ist. Die Energiewende erfordert ein neues Denken in Richtung einer flexiblen und dezentralen Energieversorgung. Dezentrale Steuerungssysteme ermöglichen es, erneuerbare Energiequellen effizient zu nutzen und den Energiefluss in Echtzeit anzupassen.
Wichtig ist dabei ganz besonders, dass es nicht um ein „entweder oder“ geht, sondern um ein „sowohl als auch„. Denn wir werden auf absehbare Zeit noch das bisher sehr erfolgreiche zentrale System brauchen. Aber wir können und müssen gleichzeitig Energiezellen aufbauen, ohne das Gesamtsystem zu gefährden. Ob das mit Quartierslösungen beginnt oder ganze Regionen umfasst, ist zweitrangig. Denn wie in der Natur sind Zellen keine isolierten Einheiten, sondern miteinander verbunden und im Austausch.
Aber wie kommen wir dahin? Auch hier brauchen wir ein „sowohl-als-auch“: Wir brauchen innovative Lösungen, die diese Zellbildung unterstützen. Hier bietet z.B. die Firma neoom aus Freistadt bereits entsprechende Bausteine und Lösungen an. Wir brauchen innovative Regionen, die bereit sind, in diese Richtung mitzugehen und solche ganzheitlichen Lösungen aufzubauen. Wir brauchen aber auch eine innovative Ausbildungsinitiative, um vernetzt denkende und handelnde Energiesystemmanager:innen auszubilden. Damit dies gelingt, brauchen wir eine innovative Politik und Regulierung, die genau solche Maßnahmen fordert und fördert und auch als möglichen Ersatz für den Netzausbau versteht. Von entscheidender Bedeutung ist die Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, um sicherzustellen, dass Netzbetreiber und Energieversorger im Interesse der Gesellschaft handeln können, ohne in veraltete Monopolstrukturen zurückzufallen. Eine ausgewogene Regulierung und eine klare Vision für die Zukunft sind unerlässlich, um den Wandel zu nachhaltigeren und effizienteren Energiesystemen zu fördern. Dabei müssen wir schnell handeln, damit uns die heutigen, wenig systemischen Entwicklungen nicht in naher Zukunft um die Ohren fliegen.
Die Energiewende ist eben nicht nur eine Technikwende, sondern eine Kulturwende, mit noch sehr viel Luft nach oben. Wir brauchen nicht nur technologische Innovationen, sondern auch einen grundlegenden Wandel in unserer Denkweise und unserem Verhalten. Es geht darum, alte Selbstverständlichkeiten zu überdenken und Mut zu haben, neue Wege zu beschreiten. Oder wie Albert Einstein es ausgedrückt haben soll: „Probleme kann man nie mit der gleichen Denkweise lösen, die sie verursacht hat“. Für eine funktionierende und erfolgreiche Energiewende braucht es daher neue Denkräume und Lösungen und nicht nur einen Hammer.