Letzte Aktualisierung am 29. Dezember 2024.

Der Artikel von Dirk Specht mit dem Titel „Das Strommarktdesign hat seinen Grenznutzen erreicht“ analysiert kritisch die Funktionsweise und die aktuellen Herausforderungen des europäischen Strommarktdesigns. Hier sind die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst:

Kernaussagen

  1. Das aktuelle Strommarktdesign basiert auf vereinfachten ökonomischen Modellen, die der Komplexität des Strommarktes nicht gerecht werden.
  2. Die Merit-Order-Preisbildung führt zu unbeabsichtigten Effekten und überhöhten Preisen.
  3. Wenige große Anbieter haben einen Informationsvorsprung und können den Markt beeinflussen.
  4. Das System oszilliert zwischen Phasen mit sehr niedrigen und sehr hohen Preisen.
  5. Die Lenkungswirkung des Marktes hat nachgelassen, stattdessen werden Subventionen wichtiger.
  6. Erneuerbare Energien und konventionelle Kraftwerke sind in eine ungewollte Symbiose geraten.
  7. Batteriespeicher werden derzeit nicht optimal eingesetzt.
  8. Das Marktdesign hat seine Ziele teilweise erreicht, verhindert aber nun die vollständige Zielerreichung.
  9. Eine grundlegende Reform des Strommarktes ist notwendig.
  10. Zwei mögliche Reformansätze: Versorgungsmarkt mit langfristigen Verträgen oder stärkere Aufteilung in Marktsegmente.

Hintergrund und Problematik des aktuellen Strommarktdesigns

Der europäische Strommarkt basiert auf einem Börsenhandelsmodell mit einem speziellen Preisbildungsmechanismus, der sogenannten Merit-Order. Dieses System wurde mit der Absicht eingeführt, einen effizienten und wettbewerbsorientierten Strommarkt zu schaffen. Allerdings zeigen sich in der Praxis zunehmend Schwächen und unbeabsichtigte Nebeneffekte dieses Marktdesigns.

Theoretische Grundlagen und ihre Grenzen

Die ökonomischen Modelle, die dem Strommarktdesign zugrunde liegen, basieren auf vereinfachten Annahmen über Angebot und Nachfrage. Diese Modelle, wie das naive Angebot-Nachfrage-Diagramm oder die Merit-Order-Kurve, können die Komplexität des realen Strommarktes nicht ausreichend abbilden. Insbesondere vernachlässigen sie wichtige Faktoren wie die Marktmacht einzelner Akteure, die Besonderheiten des Stromhandels und die technischen Eigenschaften des Stromsystems.

Die Merit-Order und ihre Auswirkungen

Die Merit-Order ist ein zentrales Element des aktuellen Marktdesigns. Sie sieht vor, dass der Preis für alle Stromanbieter durch das teuerste noch benötigte Kraftwerk bestimmt wird. Theoretisch sollte dies Anreize für effiziente Stromerzeugung setzen und günstigere Technologien fördern. In der Praxis führt dieses System jedoch oft zu überhöhten Preisen und unerwünschten Marktverzerrungen.

Ein Hauptproblem ist, dass wenige große Anbieter einen erheblichen Informationsvorsprung haben. Sie kennen ihre eigenen Kapazitäten und können das Marktgeschehen besser einschätzen als kleinere Teilnehmer. Dies ermöglicht es ihnen, strategisch zu bieten und die Preise zu beeinflussen.

Preisbildung und Marktverhalten

Die tatsächliche Preisbildung am Strommarkt weicht erheblich von den theoretischen Modellen ab. Statt eines stabilen Gleichgewichtspreises beobachtet man starke Preisschwankungen. In Zeiten hoher Einspeisung erneuerbarer Energien fallen die Preise oft auf null oder sogar in den negativen Bereich. Sobald konventionelle Kraftwerke benötigt werden, steigen die Preise jedoch oft weit über die tatsächlichen Produktionskosten hinaus.

Dieses Verhalten lässt sich spieltheoretisch erklären. Die Marktteilnehmer passen ihre Strategien ständig an und versuchen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. In Phasen knappen Angebots können sie die Preise nach oben treiben, da sie wissen, dass ihre Kapazitäten benötigt werden.

Auswirkungen auf verschiedene Marktteilnehmer

Das aktuelle Marktdesign hat unterschiedliche Auswirkungen auf die verschiedenen Akteure:

  • Betreiber erneuerbarer Energien: Sie profitieren von den hohen Preisen in Knappheitssituationen, leiden aber unter den Nullpreisphasen. Dies führt zu unsicheren Einnahmen und erschwert Investitionen.
  • Betreiber konventioneller Kraftwerke: Sie können in Hochpreisphasen hohe Gewinne erzielen, haben aber mit sinkenden Volllaststunden zu kämpfen. Dies macht den Bau neuer Kraftwerke riskant.
  • Speicherbetreiber: Batteriespeicher werden derzeit hauptsächlich für kurzfristige Arbitragegeschäfte genutzt, anstatt ihr volles Potenzial für die Systemstabilisierung auszuschöpfen.
  • Verbraucher: Sie sind letztlich die Leidtragenden der Preisschwankungen und müssen oft überhöhte Preise zahlen, die nicht die tatsächlichen Produktionskosten widerspiegeln.

Kritik am aktuellen Strommarktdesign

  • Das Strommarktdesign basiert auf einem naiven Modell: Der aktuelle Strommarkt operiert mit einem „Markträumungspreis“ oder „Merit-Order„-System, das auf einer einfachen Angebots- und Nachfragevorstellung beruht. Dieses Modell ist jedoch zu vereinfacht und ignoriert die komplexen spieltheoretischen Dynamiken, die tatsächlich auf dem Markt ablaufen. Es wird kritisiert, dass dieses Modell in der Realität nicht funktioniert und zu ineffizienten Preisen führt.
  • Falsche Annahmen über Angebot und Nachfrage: Es wird oft fälschlicherweise angenommen, dass Preise durch ein „faires“ Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage entstehen. Tatsächlich ist der Strommarkt von einer massiven Überkapazität geprägt, die aber nicht zu dauerhaft niedrigeren Preisen führt. Das Problem ist nicht die Knappheit, sondern die Art und Weise, wie der Markt organisiert ist.
  • Merit-Order ist eine Marktregulierung, keine Beschreibung: Die Merit-Order, bei der der teuerste Anbieter den Preis bestimmt, ist keine natürliche Marktgegebenheit, sondern eine spezifische europäische Marktregulierung. In anderen Märkten würden sich die günstigeren Anbieter durchsetzen.
  • Die Rolle der großen Anbieter: Einige wenige große Akteure dominieren den Markt und haben einen Informationsvorsprung. Sie können ihre Angebotsstrategien so gestalten, dass sie die Preise in die Höhe treiben, insbesondere in Situationen, in denen sie nicht ersetzbar sind.
  • Spieltheoretisches Verhalten: Die Preisbildung an der Strombörse ist ein spieltheoretischer Prozess, bei dem Anbieter ihre Preise nicht unbedingt an den Grenzkosten orientieren, sondern auch an der erwarteten Marktentwicklung. Dieses Verhalten führt oft zu konkludentem Handeln, bei dem die Preise steigen.
  • Fehlanreize und „Schattenwirtschaft“: Der Börsenmarkt hat seine Lenkungswirkung verloren, und es gibt eine „Schattenwirtschaft“ durch Subventionen, um die Fehlanreize des Börsenmarkts zu kompensieren. Die aktuelle Situation ist ineffizient und nicht zielführend.
  • Batteriespeicher werden nicht optimal genutzt: Batteriespeicher werden momentan hauptsächlich für Preisdifferenzmodelle eingesetzt und nicht für die Netzstabilisierung. Dies führt zu einer suboptialen Nutzung der Speicher und kann zu selbst-kannibalisierenden Geschäftsmodellen führen.

Auswirkungen und Konsequenzen

  • Gaspreiskrise als Auslöser: Die Gaskrise hat die Mängel des Strommarktdesigns besonders deutlich gemacht, da sie sich auf die Strompreise ausgewirkt hat, obwohl die Produktionskosten nicht im gleichen Maße gestiegen sind.
  • Preise über den Gestehungskosten: Die Strompreise sind oft deutlich höher als die tatsächlichen Gestehungskosten, was darauf hindeutet, dass der Markt nicht mehr effizient arbeitet.
  • Keine Transformationsdynamik: Das aktuelle Marktdesign hat nicht die erwartete Dynamik bei der Transformation zu erneuerbaren Energien erzeugt.

Lösungsansätze

  • Versorgungsmarkt statt Spotmarkt: Eine mögliche Lösung wäre, den Spotmarkt als führendes Instrument aufzugeben und stattdessen einen Versorgungsmarkt mit Stromlieferverträgen (PPAs) zu schaffen.
  • Atomisierung der Anbieterstruktur: Eine andere Option wäre, die Anbieterstruktur weiter zu atomisieren und verschiedene Marktsegmente für den aktuellen Markt, einen Reservemarkt und einen Speichermarkt zu schaffen. Es sollte rechtlich getrennt sein, damit nicht die selben Akteure auf allen diesen Märkten gleichzeitig tätig sein können.
  • Mehr Wettbewerb: Es ist notwendig, ausreichend Wettbewerb unter den Anbietern und Nachfragern zu schaffen.
  • Anpassung an technische Entwicklungen: Integration moderner Speichertechnologien in die Netzstabilisierung.
  • Förderung eines gesamtökonomisch optimalen Einsatzes von Ressourcen.

Fazit

Das aktuelle Strommarktdesign hat seine Grenzen erreicht und führt zu ineffizienten Preisen und Fehlanreizen. Es ist eine grundlegende Reform erforderlich, um die Ziele der Energiewende zu erreichen. Das System sollte von einem einfachen, auf Angebot und Nachfrage basierenden Markt, hin zu einem System, das die Komplexität und Besonderheit der Energieerzeugung und -versorgung adäquat berücksichtigt, weiterentwickelt werden. Eine grundlegende Reform ist notwendig, um die Ziele der Energiewende zu erreichen, Versorgungssicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig faire Preise für Verbraucher zu ermöglichen. Die Diskussion sollte sich auf neue Marktmodelle konzentrieren, die sowohl langfristige Planungssicherheit schaffen als auch kurzfristige Flexibilität gewährleisten.

Eigene Anmerkungen

Bezogen auf die unterschiedlichen Erzeuger folgt, dass Erneuerbare zu Null anbieten, weil die gar keine Grenzkosten haben.

Dies mag für PV noch zutreffen, für Wind jedoch nicht, wie Sie weiter unten mit dem Preisband von 60 bis 100 €/MWh untermauern.

Wenn man die ISE-Studie 2024 heranzieht, dann müsste das Band wohl bei 40-200 Euro liegen, wo die meisten Kraftwerke noch ihre Gestehungskosten decken können.

In diesem Jahr hatten wir bereits über 1.000 Stunden mit Preisen unter 20 € und über 2.200 Stunden mit Preisen über 100 €. Der Punkt ist aber, dass es den geförderten PV-Anlagen egal ist/sein kann, was die Börsenpreise machen, weil sie ohnehin eine fixe Vergütung bekommen, auch wenn sich da nächstes Jahr etwas ändert.

Und EE können auch (fast) immer locker mit null Euro anbieten, weil fast immer ein teureres Kraftwerk benötigt wird und sie dann auch den höheren Preis bekommen, eine Eigenheit, die sie ohnehin erwähnt haben.

Die oft beklagten negativen Preise sind also kein Wahnsinn, sondern eine betriebswirtschaftlich rationale Optimierung.

Genau. Und noch mal: Die geförderten Anlagen bekommen ohnehin ihren Festpreis, also haben sie auch keinen Anreiz, hier etwas anderes zu machen. Und das kritisiere ich eben als Planungs-/Konzeptionsfehler!

Kaltreserve

Hier stellt sich für mich die Frage, wie viel Vorlaufzeit diese benötigen bzw. ab wann diese in Bereitschaft versetzt werden und ob sie dann wirklich rechtzeitig zur Verfügung stehen, da wir immer wieder kurzfristige, erhebliche Abweichungen von den Prognosen sehen.

Insgesamt ist also die Erwartung und der Plan, dass der Markt die billigere Erzeugung ausbaut und die teurere verdrängt, ohne dass es zu Ausfällen kommt.

Hier sehe ich nur das Problem, dass sehr seltene Ereignisse wie 2012 oder 2017 mit wirklich längeren Dunkelflauten damit schwer abzudecken sind, wenn man, wie es gerade jemand vom BMWK gesagt hat, Versorgungssicherheit auf Kante plant.

Informationsasymmetrie durch Vorhersagefähigkeit der Großen

Auch dies halte ich für einen Konstruktionsfehler der Merit-Order. Diese hatte in den letzten Jahrzehnten mit sehr hohen und in der Verfügbarkeit vergleichbaren Überkapazitäten sicherlich ihre Berechtigung und zu sinkenden Preisen geführt.

Aus meiner Sicht wurden jedoch drei Aspekte zu wenig berücksichtigt bzw. durch entsprechende Regeln abgesichert:

  1. Wie verändert sich das Verhalten, wenn die Überkapazitäten allmählich abgebaut werden, weil die unwirtschaftlichen Anlagen aus dem Markt ausscheiden?
  2. Wie wirkt sich die Asymmetrie der Gestehungskosten zwischen EE und konventionellen Anlagen aus?
  3. Was passiert, wenn es zu einer Primärenergiekrise kommt, z.B. bei Gas? Was wir ja 2022 schmerzhaft gesehen haben, was Sie ja auch angesprochen haben.

Und eigentlich kommt jetzt noch ein weiterer Punkt hinzu:

  1. Die großen Player mit eigenem Kraftwerkspark haben einen großen Informationsvorsprung, der durch KI noch größer wird. Sie können sehr genau „zocken“, wo wir schon in die Nähe des Hochfrequenzhandels kommen …

Und da sind wir dann auch bei der Komplexität des Marktes, die niemand wirklich mehr durchblickt. Und daher bezweifle ich, dass das, was vor Jahren noch gegolten hat, dass die MO den volkswirtschaftlich besten Preis generiert, heute noch gilt. Auch weil ich die österreichischen Preise – mit sehr vielen abgeschriebenen EE-Anlagen (Wasserkraft) – in keiner Weise mehr nachvollziehen kann.

Jetzt kann man den Black-Box-Versprechungen glauben, aber der Nachweis wird wohl sehr schwierig werden, was Sie ja letztlich auch kritisieren.

Die Gesamtbilanz ist unklar, insbesondere die Verteilung der Gewinne und Verluste.

Ich denke, ein Verlierer steht ziemlich sicher fest: das sind die meisten Kunden …

Der Börsenmarkt hat seine Lenkungswirkung also verloren, längst gibt es eine „Schattenwirtschaft“ durch einen Subventionsmarkt, der die Fehlanreize des Börsenmarkts kompensieren muss.

Und jede Änderung führt zu noch komplexeren Regeln 😒.

Daher mein pragmatischer Ansatz als Diskussionsgrundlage: Jeder, der am Strommarkt teilnehmen will, muss eine definierte Anzahl von Stunden im Jahr gesichert einspeisen können. Das würde die EE-Anlagen automatisch zur Kooperation zwingen, sei es mit Speichern oder mit konventionellen Kraftwerken. Dann kann man noch einen CO₂-Rahmen hinzufügen, und das Ganze regelt sich von selbst.

Ein weiteres Problem ist, dass der deutschlandweite Einheitspreis in keiner Weise geeignet ist, auch nur ansatzweise ein systemdienliches Verhalten zu erzeugen. Ganz abgesehen davon, dass der Preis der Physik folgen muss und nicht umgekehrt. Hier wird also bereits der Grundstein für die nächsten Verwerfungen gelegt 😒.

Danke, dass Sie das mit den Batteriespeichern und den Kannibalisierungseffekten auch so klar ansprechen. Auch hier fehlt der systemische Ansatz.

Daher meine zweite These: Wir brauchen zusätzlich dezentrale Funktionseinheiten mit einem sektorübergreifenden Energiemanagement („Energiezellensystem„). Anders wird die zunehmende Komplexität nicht beherrschbar bleiben, es sei denn, wir hebeln die Naturgesetze und Erkenntnisse der Evolution aus.