Letzte Aktualisierung am 08. August 2024.

Die Strompreise haben sich seit dem 2. Quartal 2021 massiv verändert. Dieser Beitrag versucht, einige wichtige Aspekte dazu zu beleuchten und Hintergrundinformationen zu liefern. Dabei wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Das Grundproblem: Eine sehr hohe Intransparenz und die damit verbundenen sowie unterschätzten systemischen Risiken!

Niemand konnte mir bisher wirklich erklären, wie der Preis zum Zeitpunkt X konkret zustande gekommen ist und welches Kraftwerk etc. dafür ausschlaggebend war. Es wird immer auf das Merit-Order-System verwiesen und dass das Marktmodell den volkswirtschaftlich besten Preis erzielt, aber letztlich ist das Ganze eine Black Box, die selbst Insider immer wieder überrascht. Als das System entwickelt wurde, waren die Rahmenbedingungen völlig anders und es ist auch glaubhaft, dass die Ergebnisse damals den Absichten entsprachen. Ob das heute noch so ist, kann man glauben oder nicht. Wirklich nachprüfbar ist es auf jeden Fall nicht und es sind einige Zweifel angebracht, die auch in diesem Beitrag angesprochen werden.

Wir befinden uns auf jeden Fall in einer ähnlichen Situation wie vor dem großen Finanzcrash 2007 folgend. Nur geht es diesmal nicht nur um virtuelle Werte, sondern um unsere Lebensgrundlagen: Denn ohne oder mit einer unzureichenden Energieversorgung kollabiert jede Gesellschaft! (siehe etwa Der Seneca-Effekt).

Dazu passend ein Zitat aus „Shorting the Grid: The Hidden Fragility of Our Electric Grid“ aus 2020:

Oder mit anderen Worten ausgedrückt: 

Meredith Angwin

„In today’s grid governance, I see more parallels with the 2007 financial system than I would like to see.“

George Santayana

„Wer die Vergangenheit vergisst, ist verdammt, sie zu wiederholen“

Unterschätzte systemische Risiken

Hierzu ein Zitat aus Das Risikoparadox – Warum wir uns vor dem Falschen fürchten von Ortwin Renn, 2014:

Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich im Juni 2008 zum »Chief Risk Officer Summit« in das Nobelhotel Heiligendamm an der Ostseeküste eingeladen war, um eine Sitzung zum Thema »Systemische Risiken« zu moderieren. Der Hauptsprecher war der oberste Risiko-Manager eines der größten Bankhäuser in Deutschland. Angesprochen auf die globale Bedrohung durch die sich schon abzeichnende Finanzkrise winkte er lächelnd ab. Natürlich seien die auf Immobilien beruhenden Wertpapiere in den USA völlig überbewertet. Aber der Anteil aller Vermögenswerte, die auf Immobilien beruhten, würden an den zurzeit gehandelten strukturierten Produkten weniger als 3 % der Gesamtsumme ausmachen. Selbst wenn alle Häuser in den USA nichts mehr wert seien, würde das Finanzsystem, damit problemlos umgehen können. Natürlich würde das eine Delle in den Finanzgeschäften bedeuten, aber mehr auch nicht. Die »Weisheit« der strukturierten Produkte bestünde ja gerade darin, dass man riskantere und weniger riskante Werte zusammen gebündelt habe. Durch diesen Portfolioeffekt, der darin bestehe, dass ein Verlust bei einem Teil der strukturierten Produkte durch einen Gewinn bei den anderen ausgeglichen werden könne, wäre eine globale Finanzkrise ausgeschlossen. Wohlgemerkt: Der Bankmanager war noch drei Monate vor dem Platzen der Finanzblase fest davon überzeugt, dass es bis auf die von ihm prognostizierte temporäre Delle keine weiteren Auswirkungen auf den Finanzmarkt geben würde. Was er in seinen Überlegungen völlig übersehen hatte, war der Dominoeffekt von den »faulen« auf die guten Kredite und die psychologische Wirkung von einzelnen Zusammenbrüchen auf die hochvernetzten Wirkungszusammenhänge in allen anderen Finanzbereichen und darüber hinaus. Übrigens ist dieser Finanzmanager heute nicht mehr bei der Bank beschäftigt. Zum Dritten eignen sich viele der systemischen Risiken nicht für eine aufrüttelnde und emotional ansprechende Berichterstattung in den Medien. Globale Vernetzung, Unübersichtlichkeit der kausalen Zusammenhänge, Pluralisierung von Meinungen und Bewertungen sowie ein Vertrauensverlust in Experten und Entscheidungsträger waren dort die entscheidenden Stichworte. S. 337.

Warum ist es so schwer, gegen die systemischen Risiken anzugehen?

Neben den uns oft in die Irre führenden individuellen Wahrnehmungsmustern sind vier kollektive Verhaltensmuster zu nennen, mit denen wir systemische Risiken wahrnehmen, bewerten und steuern:

  • Allmendefalle: Öffentliche Güter, die von uns allen genutzt werden können, ohne dass wir selbst dazu einen Beitrag leisten müssen, werden entweder übernutzt oder erst gar nicht erstellt, weil jeder darauf hofft, dass der jeweils andere dafür zahlen wird. Im Endeffekt tut es dann keiner. Viele systemische Risiken betreffen solche öffentlichen Güter, wie Umweltschutz oder soziale Gerechtigkeit.

  • Effizienzfalle: Mit zunehmender Effizienzausrichtung steigt die Verwundbarkeit unserer Institutionen und Infrastrukturen, weil große zentrale Einrichtungen mit entsprechend hoher Vernetzungsdichte in der Regel kostengünstigere Leistungen anbieten können als viele dezentrale, autonome Einheiten. Diese Entwicklung erhöht unsere Verwundbarkeit, sodass im Krisenfall eine Kette von nicht vorhersehbaren Schäden zu erwarten ist. Die Finanzkrise ist dafür ein passendes Beispiel.

  • Hybrisfalle: Unsere modernen Gesellschaften neigen dazu, mehr Zuversicht in die Leistungsfähigkeit unseres Wissens, unserer Technik und unserer Organisationsformen zu besitzen, als wir dies realistisch erwarten dürfen. Dadurch werden wir blind gegenüber den Schattenseiten der Modernisierung und blenden die latenten systemischen Risiken aus.

  • Autonomiefalle: In jedem Funktionsbereich in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gilt das Gebot der bereichsspezifischen Optimierung. Ob Industrie, Finanzen, Umweltschutz oder soziale Absicherung, das Ziel ist jeweils, für den eigenen Bereich und die eigene Klientel das meiste herauszuholen. Dabei verlieren die Beteiligten leicht aus den Augen, dass mit jeder einseitigen Optimierung Folgekosten in anderen Funktionsbereichen anfallen, die in der Regel nicht bedacht oder auch unterschätzt werden. So kann es, wie der Soziologe Ulrich Beck an vielen Beispielen nachgewiesen hat, dazu kommen, dass im Rahmen eines Funktionsbereiches sinnvolle und wirksame Maßnahmen zu vielen und schwerwiegenden negativen Nebenfolgen in anderen Bereichen führen, die den erwünschten Haupteffekt bei Weitem überdecken. Zum Beispiel hat die verstärkte Nutzung von Biomasse zu Energiezwecken die Preise für Lebensmittel wie Reis und Getreide in die Höhe schießen lassen und damit zu einer verstärkten Hungerkrise in den schwach entwickelten Ländern beigetragen. S. 592f.

Strompreisbildung – Merit-Order-Effekt

In den Medien und auch von verschiedenen Experten wurde mit der extremen Preiserhöhung ab 2021 immer wieder die Merit-Order als Grund für die Strompreisexplosion genannt. Das Problem ist aber leider viel komplexer. Deshalb hier einige systemische Betrachtungen. Zur generellen Preisbildung siehe die sehr gute Aufbereitung von Dirk Middendorf.

Als Merit-Order bezeichnet die Energiewirtschaft die Einsatzreihenfolge der stromproduzierenden Kraftwerke auf einem Stromhandelsplatz, um die wirtschaftlich optimale Stromversorgung zu gewährleisten. Die Merit-Order orientiert sich an den niedrigsten Grenzkosten, also der Kosten, die bei einem Kraftwerk für die letzte produzierte Megawattstunde anfallen. Die Merit-Order ist darum unabhängig von den Fixkosten einer Stromerzeugungstechnologie. Die Kraftwerke, die fortlaufend sehr preisgünstig Strom produzieren, werden gemäß der Merit-Order als Erstes zur Einspeisung zugeschaltet. Danach werden so lange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten hinzugenommen, bis die Nachfrage gedeckt ist.

Bei der Merit-Order handelt es sich um ein mögliches Beschreibungsmodell eines funktionierenden Strommarkts. Die Annahme hinter diesem Modell ist, dass Kraftwerksbetreiber immer ihre Kosten für die nächste produzierte Megawattstunde decken wollen, sonst würden sie nicht produzieren. Kraftwerke mit niedrigen Grenzkosten können also einen niedrigeren Preis für ihren Strom bieten und werden damit öfter bezuschlagt als Kraftwerke mit höheren Grenzkosten. Die Merit-Order versucht also zu erklären, wie die Preisbildung auf dem Strommarkt funktioniert; sie ist kein „Gesetz“, das den Kraftwerkseinsatz koordiniert. Quelle/Siehe weitere Details: https://www.next-kraftwerke.de/wissen/merit-order

Das zentrale Problem

Grundsätzlich hat sich das Merit-Order-Modell bewährt und in den letzten Jahren für günstige Strompreise gesorgt. Es gibt jedoch offensichtlich mehrere schwere Designfehler:

  1. Es wurden offensichtlich keine Mechanismen für Krisenzeiten oder explodierende Rohstoff-/Primärenergiekosten implementiert. Das Marktmodell funktioniert zwar richtig, jedoch werden die mit den extrem steigenden Preisen ausgelösten wirtschaftlichen und sozialen Nebenwirkungen (👉 Komplexität) ausgeblendet. Die Auswirkungen wurden in der Energiekrise ab 2022 durch eine „Strompreisbremse“ (Subventionierung mit Steuergeld) ausgeglichen und damit versteckt. 
  2. Das Modell wurde vor rund 20 Jahren entwickelt, als es im ENTSO-E-Gebiet noch massive Kraftwerks- und Erzeugungsüberkapazitäten gab. Dadurch konnten die Preise rasch gesenkt und die Effizienz deutlich gesteigert werden. Diese Überkapazitäten gibt es heute jedoch weitgehend nicht mehr, sodass das Modell negative Nebenwirkungen zeigt: Erneuerbare Energien können zwar die konventionelle Erzeugung „nach rechts schieben“, aber wenn keine oder kaum EE-Erzeugung vorhanden ist – wie fast jeden Tag in der Nacht – wird es extrem teuer. Auch, weil zuästzlich die billigeren Kern- und Kohlekraftwerke abgeschaltet werden (sollen). Jetzt soll auch noch Gas wegfallen. Damit droht das totale Chaos.
  3. Die tatsächliche Preisbildung ist massiv intransparent („black box“) und begünstigt daher Missbrauch in Engpasssituationen. Grundsätzlich ist es richtig, dass der Markt dies selbst regeln würde. Nur ist die gesamte Gesellschaft von diesem Markt und insbesondere von der technisch/physikalischen Machbarkeit abhängig, da hier ständig ein Gleichgewicht gehalten werden muss, da sonst das System kollabiert.
Merit-Order-Effekt
Merit-Order-Effekt ohne KKW & Kohle

Vor allem der 2022 extrem gestiegene Gaspreis hat einen wesentlichen Einfluss auf den Strompreis, was jedoch kein Naturgesetz ist, das man nicht ändern könnte.

Die einfachste, volkswirtschaftlich wohl billigste und sofort umsetzbare Möglichkeit wäre gewesen: Der Staat kauft das benötigte Gas und stellt es (subventioniert) den Kraftwerksbetreibern zur Verfügung. Der Verbrauch ist in der Regel gering und damit auch die tatsächlichen Kosten für den Steuerzahler. Die anderen Quersubventionierungen (Energiekostenausgleich, Klimabonus, Arbeitslosengeld etc.) sind um ein Vielfaches teurer und werden mit jedem Tag teurer (wenn die Wirtschaft einbricht etc.).

Merit-Order-Gewinne

Offensichtlich ist der Ernst der Lage bei vielen Akteuren noch nicht angekommen, was oft auf unterkomplexes und lineares Denken zurückzuführen ist. Natürlich gibt es auch im Strommarkt starke internationale Verflechtungen und Interessen, die dem entgegenstehen.

Zwar sind die Preise ab 2023 wieder deutlich gesunken, die Volatilität und Variabilität haben jedoch erheblich zugenommen. Innerhalb weniger Stunden kann es nun zu erheblichen Schwankungen von teilweise über 100 Euro und mehr kommen. Siehe hierzu auch den eigenen Beitrag Strompreisentwicklungen.

Probleme durch die reine Berücksichtigung der Gestehungskosten

Der Strommarkt honoriert jene Erzeugungsanlagen, welche die geringsten Gestehungskosten haben. Das ist grundsätzlich gut, missachtet aber wesentliche Nebenwirkungen, da hier ein Denken in Einzelteilen gefördert wird, was langfristig für die Systemsicherheit sehr schädlich ist.

  1. Österreich hat traditionell durch die vielen Wasserkraftwerke einen sehr hohen EE Anteil. Dennoch spiegelt sich das in den Marktpreisen kaum wider, da hier vor allem die volatilen EE (Wind und PV) die Merit-Order bestimmen.
  2. Von unterschiedlichen Akteuren wird der rasche Ausbau von weiteren Wind- und PV-Anlagen gefordert, weil sie überzeugt sind, dass damit die Preise weiter gesenkt werden könnten. Das ist ein Irrtum, denn damit sinken zwar die Marktpreise zu gewissen Zeiten, die dafür erforderlichen Redispatsch– und Engpassmanagementkosten werden jedoch in den Netzentgelten versteckt und sozialisiert.
  3. Zum anderen wird damit immer weniger in verlässlich verfügbare Erzeugungsanlagen investiert, weil sich diese immer weniger rechnen und vor allem hohe Investitionskosten haben.
Systemverständnis
  1. Eine Investition in Speicher – langfristige und teure Infrastrukturprojekte – wird damit offensichtlich auch nicht ausgelöst.
  2. Damit optimiert sich das „System“ so lange, bis es kollabiert, weil nur in Einzelteilen gedacht und gehandelt wird, die aber der Systemstabilität entgegenwirken.

 

Beispiele für die „Duck Curve“ in Deutschland

Details siehe Beitrag „Duck Curve“.

221016-Strompreise AT-CH-DE-FR
221006 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220918 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220917 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220916 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220902 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220830 - Strompreise AT-CH-DE-FR
220829 - Strompreise AT-CH-DE-FR

Albert Einstein

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

 

Die 70%-Regel und die Schweiz

Oder warum 100 minus 70 nicht immer 30 ergibt

Quelle: www.swissgrid.ch

Die EU arbeitet mit Hochdruck an der Vollendung des Binnenmarktes für Strom. Die Implementierung des dritten Binnenmarktpakets schreitet voran. Gleichzeitig wurde das «Clean Energy Package» in Kraft gesetzt. Dieses wird derzeit schrittweise umgesetzt, was auch Konsequenzen für die Schweiz hat. Eine Massnahme, die das Clean Energy Package beinhaltet, ist die sogenannte 70%-Regel. Diese besagt, dass die EU-Mitgliedstaaten ab 1. Januar 2020 mindestens 70 Prozent der Kapazität ihrer Netzelemente für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen müssen. Einige Länder haben von der Ausnahmeregelung Gebrauch gemacht, diese Kapazitätszuteilung bis Ende 2025 stufenweise anzuheben. Mit der Umsetzung der 70 %-Regel ist eine Zunahme des Handels innerhalb der EU zu erwarten.

Es gibt verschiedene Interpretationen, wie mit Nicht-EU-Staaten wie der Schweiz umgegangen werden soll. Momentan ist aber davon auszugehen, dass ohne entsprechende Vereinbarungen Flüsse mit Nicht-EU-Staaten nicht zu diesen 70 Prozent zählen. Der erhöhte Handel führt zu neuen Herausforderungen für das Schweizer Übertragungsnetz, insbesondere wenn der Handel mit der Schweiz nicht berücksichtigt wird.

Geplante und ungeplante Stromflüsse

Im Stromnetz gibt es verschiedene Flüsse. Sie werden grob unterteilt in geplante und ungeplante Stromflüsse. Die geplanten Flüsse entsprechen den getätigten Handelstransaktionen. Verkauft also bspw. Deutschland Strom nach Frankreich und der Strom fliesst direkt über die Grenze von Deutschland nach Frankreich, dann haben wir es mit einem geplanten Import-Export-Stromfluss zu tun. Oft fliesst aber bei solchen Handelsgeschäften physikalisch bedingt nur ein Teil des Stroms direkt über die Grenze. Der Rest des Stroms sucht sich einen Weg über andere Länder und so entstehen ungeplante Flüsse. Verkauft also bspw. Deutschland Strom nach Frankreich, fliesst ein Teil dieses Stroms unweigerlich als ungeplanter Transitfluss über ein anderes Land, wie bspw. Belgien. Beide Arten von Stromflüssen tauchen in grenzüberschreitenden Handelstransaktionen auf und zählen deshalb zu den 70 % der EU-Regel.

Ein weiterer ungeplanter Stromfluss ist der sogenannte Ringfluss. Er kommt zu Stande, wenn bspw. Deutschland innerhalb des eigenen Landes Strom handelt, dieser Strom aber über ein anderes Land, bspw. durch die Schweiz, wieder zurück nach Deutschland fliesst. Der innerhalb eines Landes produzierte Strom wird also im gleichen Land verbraucht, beansprucht aber in der Zwischenzeit ausländische Leitungen. Mit dem Netzausbau in den europäischen Ländern kann der Ringfluss zwar minimiert, aber nie vollständig verhindert werden. Denn Strom sucht sich immer den Weg des geringsten physikalischen Widerstands. Der Ringfluss ist somit ein grenzüberschreitender Stromfluss, der zwar physikalisch vorhanden ist, aber in keiner grenzüberschreitenden Handelstransaktion in Erscheinung tritt. Entsprechend zählen die Ringflüsse nicht zu der 70 % der EU-Regel.

De facto werden für den Export in die Schweiz nach der vollständigen Implementierung der 70 %-Regel in der EU also nicht 30 Prozent der Übertragungskapazität gemäss Milchbüchlein-Rechnung, sondern weniger zur Verfügung stehen. Das ist noch nicht alles.

Einfluss auf die Schweiz

Swissgrid rechnet damit, dass der Handel innerhalb der EU im Zuge der Umsetzung der 70 %-Regel zunimmt. Solange die Schweiz nicht adäquat in die dazu notwendigen Berechnungsprozesse der Netzkapazität einbezogen wird, ist in Folge eine massive Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch die Schweiz zu erwarten. Sie erinnern sich, Transit- und Ringflüsse. Damit drohen häufiger Situationen, in denen Netzelemente von Swissgrid überlastet werden. Swissgrid muss dann in den Netzbetrieb eingreifen, um das Übertragungsnetz stabil zu halten. Das ist mit Aufwand und höheren Kosten verbunden.

Sollten unsere Nachbarländer ausserdem Probleme haben, die 70 % zu erfüllen, besteht die Gefahr, dass sie die Grenzkapazitäten einseitig limitieren, um diese Regel für den Handel innerhalb der EU zu erfüllen. Sie werden demnach ihre internen Netzengpässe zeitweise auf Kosten der Exportkapazitäten für die Schweiz entlasten müssen. Konkret könnte das bedeuten, dass Deutschland und Frankreich – und damit die wichtigsten Stromexporteuer in die Schweiz –, um die 70 % zu erreichen, die bisher vorreservierte Exportkapazität in die Schweiz zeitweise bis auf null reduzieren müssen.

Damit werden die Import- und Exportkapazitäten der Schweiz potenziell massiv beschnitten, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Dies kann sich allgemein negativ auf die Netzstabilität und insbesondere im Winterhalbjahr auf die Versorgungssicherheit der Schweiz auswirken, denn im Winter ist die Schweiz auf Stromimporte angewiesen.

Swissgrid ist bestrebt, technische Vereinbarungen mit EU-Übertragungsnetzbetreibern zu treffen, welche die Situation der Schweiz im Kontext der 70 %-Regel verbessern. Im Dezember 2021 konnte Swissgrid eine entsprechende Vereinbarung mit der Kapazitätsregion «Italy North» abschliessen. Ende Oktober 2021 haben die ÜNB der Region Italy North die 70 %-Regel eingeführt. Swissgrid wendet als sogenannte «Technical Counterparty» die Regel ebenfalls an. Die neue Regelung kann voraussichtlich, bei jährlicher Genehmigung durch den betroffenen EU-Regulatoren, bis zur Einführung des Flow-Based Market Coupling in der Kapazitätsregion Italy North gelten. Anschliessend müssen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit neu verhandelt werden.

Ein zwischenstaatliches Abkommen zwischen der Schweiz und der EU würde den Einbezug der Schweiz vorwegnehmen. Doch mit der Beendigung der Verhandlungen über das Rahmenabkommen im Mai 2021 ist ein Stromabkommen in weite Ferne gerückt.

Siehe auch den Beitrag Stromabkommen EU-Schweiz

Warum viel Gas für Strom verbraucht wird

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/erdgas-stromversorgung-101.html

Obwohl Russland aktuell kaum noch Gas nach Deutschland liefert, wird es hierzulande weiter viel für die Stromerzeugung verwendet. Das ist ein Problem für das Füllen der Gasspeicher – und für die Strompreise.

Seit Jahren sammeln Wissenschaftler des Fraunhofer ISE in Freiburg alle von der Strombörse gelieferten Daten und bereiten sie tagesaktuell auf. In diesem Frühjahr erlebten sie dabei eine Überraschung: Während Russland die Gaslieferungen drastisch reduzierte und die Politik forderte, Gas einzusparen, und während die Gaspreise parallel dazu auf ungeahnte Höhen stiegen, erreichte die Stromproduktion aus Erdgas im Monat Mai einen historischen Höchststand. Entsprechend langsam füllten sich die Gasspreicher, und folgerichtig sind die für den nächsten Winter gesetzlich geforderten Reserven schwieriger zu erreichen. Bis heute, Mitte Juli, hat sich daran nichts geändert. Wind und Sonne liefern ähnlich viel Strom wie in früheren Jahren auch. Warum also wird für die Stromproduktion so viel Gas verwendet?

Die Ursachen dafür finden sich in Frankreich. Dort stehen 56 Atomkraftwerksblöcke, und 16 davon sind für eine übliche jährliche Wartung einige Wochen lang abgeschaltet. Zusätzlich sind aktuell aber zwölf weitere wegen Korrosion an Kühlrohren oder Verdacht auf solche Schäden längerfristig außer Betrieb. Wo Risse gefunden wurden, hofft der Betreiber EDF, das bis zum Herbst reparieren zu können. Der Konzern warnt aber schon vor möglichen längeren Stillständen. Und selbst wenn einzelne Blöcke wieder anlaufen, müssen weitere, ähnlich gebaute AKW auch auf Risse geprüft werden – und auch deutsche Kraftwerke noch lange die Lücke füllen.

Deutschland exportiert schon seit Jahren mehr Strom als es importiert. Auch dieses Jahr – wie üblich – einige Terawattstunden in die Benelux-Staaten und nach Tschechien. Ungewöhnlich allerdings: Mehr als acht Terawattstunden flossen nach Frankreich, zusätzlich gute zehn Terrawattstunden nach Österreich, mehr als drei in die Schweiz. Wobei davon ein großer Teil weiter nach Italien floss, das normalerweise auch französischen Atomstrom kauft. So liefen deutsche Gaskraftwerke eben auch, um den Ausfall maroder französischer Reaktoren auszugleichen. Auch dieser Umstand ließ Strompreise in Deutschland steigen.

Der Preise für Strom an den Börsen stieg von früher rund vier Cent auf mittlerweile mehr als 20 Cent. Allerdings: Erdgas trägt trotz allem nur rund 15 Prozent zur deutschen Stromerzeugung bei. Selbst wenn sich der Gaspreis massiv erhöht, ist eine Vervielfachung der Börsenpreise für Strom überraschend. Braunkohle wird von den Kraftwerksbetreibern selbst zu praktisch unveränderten Kosten aus dem Boden geholt; Wind, Sonne und Wasserkraft wurden eher billiger als teurer. Doch spezielle Regeln der Strombörse bescheren den Betreibern solcher Anlagen massive Gewinne.

Im kurzfristigen Handel wird zunächst geschätzt, wie viel Strom in den kommenden Stunden oder auch am Folgetag benötigt wird und wie viel davon aus Wind und Sonne gedeckt werden kann. Dann beginnt eine Auktion, bei der zunächst die billigsten Kraftwerke, meist Braunkohle, zum Zug kommen. Je mehr Strom benötigt wird, desto teurere Kraftwerke – oft Steinkohle – kommen zum Zug. Zuletzt bieten die teuersten – eben Gaskraftwerke -ihren Strom an. So weit, so logisch. Am Ende bekommen dann aber alle Erzeuger – auch die billigsten – den Preis, den das teuerste Kraftwerk erzielt hat. Und weil auch die Preise für den langfristigen Stromhandel sich an den kurzfristigen Börsenpreisen orientieren, stiegen auch dort die Preise massiv.

Weil Stromversorgungsunternehmen ihre Ware meist zum größten Teil ein bis drei Jahre im Voraus von den Erzeugern kaufen, wird sich dieser Anstieg für Endkunden erst in den kommenden Jahren zeigen. Doch Experten erwarten einen Anstieg der Endkundenpreise von heute rund 35 Cent pro Kilowattstunde auf bis zu 55 Cent im Lauf des nächsten Jahres. Für einen durchschnittlichen Vierpersonenhaushalt wäre das eine Mehrbelastung von 760 Euro pro Jahr.

Gleichzeitig steigen dann die Gewinne der Kraftwerksbetreiber um rund 60 Milliarden Euro jährlich. Auf Vorschlag von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat der Bundestag nun ein Gesetz beschlossen, mit dem Steinkohle- und Ölbefeuerte Kraftwerke, die bislang als Reserve nur in Bereitschaft standen, in den regulären Börsenmarkt zurückkehren und Erdgaskraftwerke verdrängen sollen. Der Erdgasverbrauch könnte dadurch sinken – die Preise allerdings kaum. Denn auch Steinkohle und Öl wurden bislang zu großen Teilen aus Russland geliefert und sind im Preis deutlich gestiegen.

 

Weiterführende Meldungen

15.09.22: 

Die Sicherheitsgarantien, die beim Einkauf von Strom und Gas von den Anbietern verlangt werden, brachten den Energieversorger an den Rand der Liquidität. Die Stadt Leipzig musste ihre Stadtwerke mit einem 150 Millionen Euro-Darlehen unterstützen. „Wer an den Europäischen Strombörsen handelt, muss daher bereits zur Sicherung der künftigen Energieversorgung getätigte Geschäfte mit Ausfallsicherheiten in Millionenhöhe unterlegen. Dies betrifft derzeit viele Stromerzeuger.“

Mittelstand ohne Strom: Allein in Osnabrück sind über 1.000 Geschäftskunden betroffen, deren Verträge zum Jahresende auslaufen und die aktuell keine neuen Angebote vom Grundversorger bekommen. Nicht nur Stadtwerke oder kleinere Versorger beenden die Verträge, selbst E.On kündigt Stromkunden.

Energiekosten: Kommunaler Energiemarkt & Stadtwerke in der Krise: Wir sehen schon jetzt die ersten Einschläge. Es gibt bereits einige Stadtwerke, die in die Insolvenz gegangen sind oder nur gerade noch die Kurve kriegen. Experten warnen vor einer gefährlichen Kettenreaktion.

03.08.22: Weitere Strompreis-Verrücktheit: Großteil des Handels wird NICHT über Börse abgewickelt. Und: Börsenpreise schwanken viel stärker als die effektiven. Und: Die Kundenpreise werden mit den BÖRSENpreisen indexiert > Börseninstabilität wird auf die tats. Preise übertragen!!!

03.08.22: Auf der Strombörse EPEX SPOT wird der Preis als Schnittpunkt von Angebot und Nachfrage (stündlich) ermittelt. Die Angebote geben lt. Lehrbuch die Grenzkosten der versch. Produzenten wider. Es könnten aber ganz andere Faktoren wirken: Ein Billigproduzent (z. B. Wasserkraft) reduziert sein Angebot so, dass auch die Angebote von Teuerproduzenten (Gas) zum Zug kommen. Dann kassiert der Billigproduzent einen Preis, der zehnmal so hoch ist wie seine Kosten (und bald noch mehr). Das wäre fraglos rational (> Ökonomen) – aus Sicht von Verbund und Co.