Ich war schon länger nicht mehr so von einem Buch fasziniert, wie aktuell von „Die Zerbrechlichkeit der Welt: Kollaps oder Wende. Wir haben es in der Hand.“ von Stefan Thurner, einem der führenden Komplexitätsforscher Europas und Leiter des Complexity Science Hub Vienna (CSH). Einerseits, weil viele Aussagen mein Komplexitätswissen untermauern und zum anderen, weil die Erkenntnisse tief erschüttern. Er versucht zwar in seinem Schlusskapitel eine mögliche positive Utopie aufzustellen, aber diese kann die zu vor getroffenen sehr klaren und harten Aussagen nicht relativieren, noch scheint sie für ihn selbst wirklich realistisch zu sein. Daher sind die vielen aufgezeigten Zusammenhänge nur schwer verdaubar. Nicht, weil wir nicht wüssten, wie man es besser machen könnte, sondern weil die absehbare Realität eine andere ist. 

Hier wieder einige Zitate aus dem Buch, die zum Weiterlesen animieren sollen.

Kernaussagen

Komplexität

Komplexe Systeme zeigen eine ungemeine Vielfalt an Phänomenen, die sich nicht verstehen lassen, wenn man die Elemente einzeln betrachtet (Emergenz). 

Komplexität entsteht erst, wenn die unterschiedlichen Bauteile eines Systems und ihre Verbindungen sich gegenseitig beeinflussen und sich in enger Abhängigkeit voneinander über die Zeit hinweg verändern.

Wenn sich ein Netzwerk über die Zeit hinweg verändert und sich dadurch die Eigenschaften der Komponenten des Netzwerks verändern, dann ist ein System meist auch komplex.

Für komplexe Systeme ist es durchaus typisch, dass man, sobald man beginnt, sie zu kontrollieren, dabei das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte.

Es ist unrealistisch zu erwarten, dass man komplizierte komplexe Systeme mit einfachen Methoden verstehen und managen kann – auch wenn das derzeit nach immer noch versucht wird.

Anpassungsfähigkeit führt dann zu dem, was Resilienz genannt wird. Ein System ist resilient, wenn es durch einen Schock zwar getroffen wird und zunächst nicht mehr so gut funktioniert wie zuvor, dass es aber die Fähigkeit besitzt, sich quasi selbst zu reparieren, und nach einiger Zeit wieder zu einer Funktionsfähigkeit wie vor dem Schock kommt.

Tipping Point / Kipp-Punkt / Phasenübergang

Dank der Komplexitätsforschung lässt sich inzwischen aber mit Bestimmtheit sagen: In allen Systemen, die die Fähigkeit zu einer evolutionären Entwicklung haben, existieren diese Tipping Points. Sie sind unvermeidlich. Und sobald sie erreicht werden, erfolgt ein blitzartiger Übergang von einem Systemzustand zu einem radikal anderen.

Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser Gesundheitssystem genauso wie das Klima oder das Finanzsystem sind komplexe, dynamische Systeme. Auch wenn diese Systeme vollkommen unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie kollabieren plötzlich. Über weite Strecken hinweg sind sie erstaunlich stabil, robust und anpassungsfähig, sie erlauben auch Fehler, aber wenn sie zu gewissen Punkten gelangen, dann kollabieren sie – unvermittelt. Diese Punkte sind die sogenannten Tipping Points. Ein Tipping Point oder ein Kipp-Punkt ist ein »Übergangs-Punkt«. Nachdem ein System so einen Punkt erreicht, ist nichts mehr so, wie es vorher war.

Daher auch immer wieder meine Warnung vor einem sehr realistischen europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfalls („Blackout“), da hier genauso zunehmende mehr Dinge auf einen Tipping Point zulaufen.

Zwischen den verschiedenen Systemzuständen oder Makroeigenschaften gibt es häufig abrupte Übergänge, die sogenannten Kipp-Punkte oder Tipping Points. Bei Wasser liegen diese bei 0 und 100 Grad Celsius, wo der radikale Übergang von fest zu flüssig und von flüssig zu gasförmig stattfindet. In der Wirtschaft kann es ein äußerer Anlass sein, wie zum Beispiel eine Finanzkrise, die zu einem Übergang von einer Boom- in eine ausgedehnte Depressionsphase führen kann. Hier ist es schon weitaus weniger klar, wo sich die Kipp-Punkte befinden und welche Faktoren zum Kollaps führen.

Eine weitere Eigenschaft von komplexen Systemen ist, dass sie manchmal extrem sensibel auf kleine Veränderungen reagieren. Sie können also auch das Gegenteil von robust und stabil sein. Das heißt, dass eine kleine Änderung einer Input-Größe einen riesigen Effekt auf den Output hat, dass er sich vielleicht sogar sprunghaft ändert. Systeme kollabieren, manche blitzartig. Oft geschieht das über Kettenreaktionen, bei denen winzige Ursachen riesige Auswirkungen haben.

Ein bekanntes Beispiel ist ein Experiment mit Mausefallen und Tischtennisbällen (ScienceBob. (2012, November 28).900 Mousetraps Unleashed With Science Bob on Jimmy Kimmel Live. YouTube. https://www.youtube.com/watch?v=XIvHd76EdQ4, WHASII. (2020, April 10). Mouse traps and ping pong balls to Show powerful message: »Social distancing works«. YouTube. https:// www.youtube.com/watch?v=wJ2NMD3VWio)

Es gehört zur Natur der komplexen Systeme, dass auch sie schnell crashen und sich dabei vollkommen verändern können, was wir oft als großes Chaos erleben. Komplexe Systeme kollabieren überall und ständig. Ein Kollaps ist das durchaus wahrscheinliche Szenario vom Ende eines jeden komplexen Systems. Eine zentrale Frage ist, wie wahrscheinlich ist der Kollaps in der nächsten Zeit? [Siehe auch How Everything Can Collapse: A Manual for our Times, Der plötzliche Kollaps von allem: Wie extreme Ereignisse unsere Zukunft zerstören können oder Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können]

Robustheit (Widerstandsfähigkeit)

Ein System ist robust, wenn es sich durch einen äußeren Schock nicht verändert, wenn es sich danach genauso verhält und genauso funktioniert wie vor dem Schock. Viele, auch nicht komplexe Systeme, sind robust und halten lange viel aus, ohne sich zu verändern. Ein Auto zum Beispiel hält problemlos Schlaglöcher bis zu einer gewissen Tiefe aus. Robuste Systeme verkraften den Ausfall einzelner Akteure oder Bauteile, der Verlust des Blinkers hindert das Auto nicht daran, weiterzufahren. Auch den Wegfall von einzelnen Links in den zugrundeliegenden Netzwerken halten robuste Systeme aus, auch massive Fehler von einzelnen Akteuren oder Institutionen. Schocks und Ausfälle werden aber meistens nur bis zu einem bestimmten kritischen Punkt toleriert. Eine einzige, noch so kleine Intervention oder ein einziges unvorhergesehenes Ereignis über diesen Punkt hinaus, selbst eine gut gemeinte Stabilisierungsmaßnahme, kann sich dann in ihr Gegenteil verkehren. Jenseits dieser Robustheitsgrenze wird das System von einem Augenblick zum nächsten crashen. Ist ein Schlagloch zu tief, bricht die Achse, und die Reise ist zu Ende. Das System geht kaputt und bleibt kaputt.

Resilienz

Resilienz ist eine weitaus spannendere Eigenschaft, die ausschließlich komplexe Systeme besitzen. Ein System ist resilient, wenn es mit einem Schock gewissermaßen umgehen kann, indem es sich nach dem Schockereignis quasi selbst repariert. In diesem Sinne ist ein Auto bis zu einem gewissen Grad robust, aber niemals resilient. Ein resilientes komplexes System, das eine gewisse Funktion erfüllt, und einen Schock erfährt, büßt als Folge des Schocks seine Funktion zunächst zu einem Teil ein, es funktioniert »schlechter«. Im Laufe der Zeit gewinnt es seine Funktion aber wieder zurück und funktioniert wie vor dem Schock. Die Fähigkeit zur Resilienz emergiert aus der Anpassungsfähigkeit der komplexen Systeme. Und diese wiederum hängt mit der Fähigkeit der Bauteile eines Systems zusammen, ihre Links im Netzwerk dynamisch zu erzeugen, zu vernichten und zu verändern.

Ein System ist umso resilienter, je schneller es nach einem Schock seine alten Funktionen oder Aufgaben wieder aufnehmen kann. Resilienz ist besonders hoch entwickelt, wenn sich die Funktion nach einem Schock sogar verbessert. Ein System ist nicht resilient, wenn es als Folge eines Schocks sofort crasht oder allmählich kaputtgeht. Wie bei der Robustheit hängt Resilienz von der Größe und der Art des Schocks ab. Schocks jenseits der Tipping Points lassen auch resiliente komplexe Systeme unweigerlich kollabieren, ohne Möglichkeit zur selbst-organisierten Reparatur oder Selbstheilung.

Resiliente Systeme benötigen generell eine minimale Vielfalt, um überhaupt resilient sein zu können. Wenn diese Vielfalt unterschritten wird, ist Selbst-Reparatur nicht mehr möglich. Durch die stetige Reduktion der Artenvielfalt in Ökosystemen zerstören wir ihre Resilienz.

Wenn Ökosysteme kippen, heißt das nicht, dass sie vollständig verschwinden. Kippen heißt, dass sie von einem Zustand »vorher« zu einem Zustand »nachher« übergehen. Der neue Zustand ist meist dadurch charakterisiert, dass sie weitaus weniger vielfältig sind.

Finanzsystem

Viele Menschen, vor allem in Kontinentaleuropa, stehen dem Finanzsystem kritisch gegenüber und glauben, es sei vor allem dafür da, Reiche reicher und Arme ärmer zu machen. Diesen schlechten Ruf hat es nicht verdient. Das Finanzsystem ist eine der zentralen Lebensadern unserer Gesellschaft. Kaum ein junger Mensch würde ein Auto, eine Wohnung oder ein Haus besitzen, wenn es das Finanzsystem in seiner heutigen Form nicht gäbe. Viele Menschen könnten keine Ausbildung machen, würde ihnen nicht jemand heute etwas vorschießen, das sie später zurückzahlen können.

Das systemische Risiko des Finanzsystems, im Speziellen das Kollaps-Risiko des sogenannten Interbankenmarktes, ist in manchen Ländern heute sogar deutlich höher als vor der letzten Finanzkrise. Es bedeutet, dass das Finanzsystem aus einen scheinbar nichtigen, unscheinbaren Anlass quasi übe Nacht zerbrechen kann.

Nach wie vor verwendet man traditionelle Maß- und Kennzahlen sowie Wirtschaftsmodelle, die in der Vergangenheit nachweislich und wiederholt schlecht funktioniert haben, ohne entsprechende empirische Grundlage und vor allem, ohne die Daten zeitgemäß zu verwenden. Scheinbar will man die Zerbrechlichkeit nicht sehen und man verdrängt das Problem, auch wenn es noch so groß und vielleicht sogar offensichtlich ist.

Unser Finanzsystem war möglicherweise noch selten so zerbrechlich wie jetzt.

Klimakrise

Etwa ein Viertel aller CO-Emissionen entfallen auf die Erzeugung und Erhaltung von Infrastruktur. Auch beim Thema Infrastruktur gibt es einen sich selbstverstärkenden Mechanismus: Infrastruktur schafft mehr Infrastruktur. Je mehr Infrastruktur gebaut wird, zum Beispiel eine Straße, umso mehr Verkehr entsteht, umso mehr Aktivität findet in einer Region statt, umso mehr Nachfrage nach weiteren Straßen und wirtschaftlicher Infrastruktur entsteht. Das größte jemals in Angriff genommene Infrastrukturprojekt ist die neue Seidenstraße. 35 Prozent des Welthandels könnten zukünftig über sie abgewickelt werden. Wie viele Tonnen Infrastrukturmaterial dafür benötigt werden und wie viele Tonnen CO2 damit in die Atmosphäre gelangen werden, ist unfassbar.

Unsere Gesellschaft verhält sich kollektiv gesehen noch so, als gäbe es in der Klimakrise weder Tipping Points noch Unumkehrbarkeit. Gäbe es beides tatsächlich nicht, hätten wir auch kein Problem.

Lange, bevor die Schmerzgrenze erreicht ist, erreichen wir die Tipping Points. Ab diesem Zeitpunkt bekommen wir den Geist nicht mehr in die Flasche zurück, selbst wenn wir uns noch so sehr bemühen. Wir sind dann nur noch Passagiere, die in einem abstürzenden Flugzeug versuchen, sich gut festzuhalten.

Sollte die Wende nicht gelingen oder zu lange auf sich warten lassen, dann ist das vielleicht das Ende der Geschichte.

Zivilgesellschaft / Demokratie / Freiheit

Vormoderne Gesellschaften machen keine Experimente, sondern setzen auf Kontinuität. Sie machen alles so, wie sie es immer gemacht haben, und minimieren damit Risiko.

Der wirtschaftliche Erfolg Chinas ist beachtlich: So konnte zum Beispiel der Anteil der Bevölkerung, der eine Krankenversicherung besitzt, von zehn Prozent im Jahr 2004 auf 95 Prozent im Jahr 2016 angehoben werden. China konnte auch extreme Fortschritte in der Armutsbekämpfung erzielen und Infrastrukturprojekte, wie die neue Seidenstraße, auf den Weg bringen. Man denke, wie umständlich, langsam und letztlich oft erfolglos, entsprechende Projekte im Westen sind.

Wenn wir die Zivilgesellschaft vor intoleranten politischen Netzwerken oder Fake News schützen möchten, dürfen wir dann die Meinungs- und Pressefreiheit einschränken, indem wir Regeln einführen, die es verbieten, gewisses Gedankengut zu verbreiten? Logisch ist dieses Dilemma nicht aufzulösen, es muss daher mit Kompromissen gelöst werden. Dieses Beispiel zeigt, dass Spielregeln miteinander in Widerspruch stehen können, die zu Mängeln im System führen, die von vielen als Systemversagen wahrgenommen werden.

Flache Hierarchien in relativ egalitären sozialen und wirtschaftlichen Netzwerken führen dazu, dass sich die Zivilgesellschaft »selbst im Weg steht«. Wenn etwa über Jahre und Jahrzehnte hinweg Entscheidungen nicht getroffen werden, die von zentraler Bedeutung für die Zukunft sind. Es geht hier nicht nur um verschleppte Bildungsreformen, Pensionsreformen, Gesundheitsreformen, die Besteuerung von Maschinen, um ein Grundeinkommen, sondern vor allem um Entscheidungen, die im Zusammenhang mit der Erderwärmung schon lange überfällig sind. Es geht auch darum, dass wir die nächste Generation anders ausbilden müssen, um in der digitalen Welt bestehen zu können, dass wir anders besteuern und umverteilen müssen, wenn wir die Vorteile der Digitalisierung für eine breite Gesellschaft zugänglich machen wollen und dass wir uns grundlegend anders organisieren müssen, wenn physische Arbeit mehr und mehr verschwindet. Für Entscheidungen dieser Art sind wir in Europa eventuell zu langsam. Die zugrundeliegenden Netzwerke, die sich dazu gleichzeitig umgestalten müssten, sind zu dicht und blockieren gegenseitig ihre Veränderung. Um Entscheidungen schnell zu treffen, sind hierarchische Strukturen besser. Deutlich wird das im Katastrophenfall.

Wann ist ein System maximal effizient? Ein großer Faktor der Herstellungskosten ist nach wie vor die menschliche Arbeit. Daher ist Effizienzsteigerung am einfachsten zu erreichen, indem immer weniger Menschen am Produktionsprozess oder an Verwaltungsabläufen beteiligt sind. Dies geschieht derzeit im Zuge der Digitalisierung in der Produktion.

Das führt zu der katastrophalen Situation, dass, um die Effizienz weiter steigern zu können, eigentlich weniger Menschen existieren sollten.

Geraten wir mit zunehmender Automatisierung zwangsläufig in ein Dilemma zwischen den Grundregeln der Würde und Gleichheit des Lebens auf der einen Seite und der marktwirtschaftlichen Effizienz auf der anderen?

Nationalpopulisten nutzen das Faktum, dass viele Menschen nicht mehr an Demokratie und die westliche Zivilgesellschaft glauben, da viele ihrer Versprechen nicht eingelöst wurden. Viele fühlen sich gegenüber Eliten und dem sogenannten Establishment benachteiligt. Viele spüren die Folgen der Globalisierung und die Anzeichen der Digitalisierung und die damit einhergehende Arbeits- und Aussichtslosigkeit. Nationalpopulisten schüren den Hass gegenüber dem Establishment, das sie für diese Entwicklungen verantwortlich machen und als korrupte verschworene Zelle der Macht darstellen, die die Demokratie zur Ausbeutung der redlichen Bürger, des sogenannten »kleinen Mannes«, benutzt. Folglich muss Demokratie zerstört werden. Und mit ihr die Institutionen, auf die sie sich gründet. So das Programm.

Normalerweise geben Nationalpopulisten keine Vision vor, wie die postdemokratische Gesellschaft aussehen soll. Ihr Ziel beschränkt sich zunächst einmal auf die Zerstörung des Systems, wie es jetzt ist.

Filterblasen / Datenherrschaft

Wenn ich aus meiner Welt gezielt Informationen ausblende, und nur mehr das wahrnehme, was mich interessiert, oder was ich sehen will, dann kann ich nicht erwarten, ein objektives Bild der Welt zu bekommen. Ich lebe dann in einer »Echokammer«. Ich höre das, was ich selbst hineinrufe. Die neuen Technologien verstärken diesen Echo-Effekt massiv.

Google und Co. nutzen also ihre Rolle als »Vertrauensperson«, um Ihnen ein verzerrtes Bild der Welt zu präsentieren, um Werbung in Ihnen zu platzieren.

Schon immer gab es Fälscher der Wirklichkeit. Das Beunruhigende an den derzeitigen Entwicklungen ist, dass die Möglichkeiten und Technologien der perfekten Fälschung, von Photoshop und Filterbubble-Design bis hin zu feindlicher Wahlbeeinflussung, praktisch jedem offenstehen. Wer sich mit Codes, Protokollen und Daten auskennt, kann mit falschen Bildern, falschen Filmen und falscher Sprache derart verwirren, dass quasi niemand mehr feststellen kann, was wahr ist und was nicht. »Wahrheit« verschwindet.

Mit Nudging und mit Bots lassen sich nicht nur bestimmte Gruppen vom Wählen abhalten, sie lassen sich auch gegeneinander ausspielen. Konflikte werden gezielt angeheizt oder Debatten unterdrückt. Auf diese Weise kann eine sehr kleine Gruppe von Menschen enorm großen Einfluss ausüben. Wer früher die Meinung der Bevölkerung eines Landes manipulieren wollte, musste sich mit seinen Parteien und Medien auseinandersetzen, der Bild-Zeitung, dem Stern, dem Spiegel oder in Österreich mit der Kronenzeitung. Es erforderte das Zusammenwirken hunderter oder sogar tausender Personen, um eine vorherrschende Meinung oder auch nur die Meinung einer bestimmten Gruppe verändern zu können, und dementsprechend viel Geld. Heute reicht eine kleine Gruppe guter Programmierer.

Filterbubbles, Echokammern und Nudging verschleiern nicht nur Fakten und »Wahrheit«, sie tragen auch zu einer rapiden Fragmentierung der Gesellschaft bei. Fragmentierung heißt, dass sich kleine Gruppen bilden, die untereinander die gleichen Werte und Ziele teilen.

Eine Gesellschaft, die nicht mehr weiß, was stimmt und was nicht, verliert eine zentrale Säule der Demokratie: die Vernunft. Gesellschaften, die ihre Entscheidungen auf der Basis von Gefühlen und Träumen treffen und zentrale Fakten gar nicht mehr berücksichtigen können, können auch reale Probleme nicht mehr lösen.

Die »neue Welt«, die gerade entsteht, werden nicht mehr jene bestimmen, die sie heute managen. Sie werden abgelöst von denen, die mit Daten umgehen können und sie nutzen.

Was in China gegenwärtig passiert, sollte uns nicht egal sein, obwohl es uns vorerst nicht direkt betrifft. Denn dieses digitale Überwachungsprojekt könnte sich mit dem steigenden weltpolitischen Einfluss Chinas in anderen Teilen der Welt verbreiten. Für Machthaber, die nicht daran denken, ihre Macht bald abzugeben, kommt diese Technologie wie gerufen.

Die Investitionen, die China derzeit in osteuropäischen Ländern tätigt, sind bereits so relevant, dass die Kommunistische Partei indirekt, etwa über ungarische und griechische Politiker, in Brüssel über ureigene europäische Themen de facto mitentscheidet. China nimmt laut China-Kenner Kai Strittenmatter somit bereits direkten Einfluss auf die EU-Politik und hat schon mehrfach die ohnehin schwierig umzusetzende Einigkeit Europas erfolgreich torpediert.

Von 1970 bis 2010 ist die Zahl der demokratischen Staaten dadurch von 35 auf über 100 angewachsen. Die Wirtschaftsleistung der demokratischen Länder hat sich im gleichen Zeitraum vervierfacht. Die Armut sank von etwa vierzig Prozent der Weltbevölkerung im Jahr 1993 auf unter zwanzig Prozent. Unsere Zivilgesellschaft ist stärker und kreativer als andere Gesellschaften der Gegenwart und der Vergangenheit.

Die Lösung der »großen Probleme« laufen letztlich auf den Schutz des Planeten und den Schutz der Zivilgesellschaft hinaus. In beiden Fällen tickt die Uhr.

Ist die Zivilgesellschaft also dazu verdammt, mitansehen zu müssen, wie sie mit Hilfe von Fake News, Demagogie und Verhetzung abgeschafft wird? Oder anders gefragt: Kann eine offene Zivilgesellschaft Fake News und Falschmeldungen überhaupt unterbinden, ohne sich damit selbst abzuschaffen?

Es ist die Natur eines Dilemmas, dass es nicht zu lösen ist. Beide Dilemmata werden uns wohl noch über die nächsten Jahre begleiten.

Andererseits, selbst wenn Einzelne ihr Verhalten innerhalb dieser Netzwerke drastisch verändern, würde das die Netzwerke wohl nur minimal verändern. Eine Verhaltensänderung bewirkt also nicht nur wenig, – oder überhaupt nichts – sie produziert auch Stress und manchmal schaden wir uns durch unerwartetes Handeln sogar selbst und unserer Umgebung im Netzwerk. Aus demselben Grund können selbst mächtige Personen oft erstaunlich wenig tun und ausrichten, auch wenn sie es wollen. Die sozio-ökonomischen Netzwerke sind so dicht, dass sie von einzelnen Knoten aus praktisch nicht zu verändern sind. Also alles aussichtslos?

Netzwerke können sich aber sehr wohl sehr schnell und drastisch verändern, wenn sich die Regeln, wie Links erzeugt werden, ändern.


Weitere wichtige Zitate

Zum Beispiel sahen wir, dass Frauen besser darin sind, Dreiecke zu schließen. Sie sind also besonders gute Netzwerkerinnen, wenn es darum geht, stabile Netzwerke zu bilden. Bei Männern sahen wir, dass sie sich besonders gerne mit Menschen vernetzen, die selbst gut vernetzt sind. In solchen Netzwerken lassen sich zwar Informationen schneller weitergeben, sie sind aber weitaus weniger stabil. Wenn in einem solchen Netzwerk ein einziger Knotenpunkt ausfällt, kann ein Teil des Netzwerks auseinanderbrechen.

Die Zahl der derzeit auf diesem Planeten lebenden Menschen, knapp acht Milliarden, die Art und Weise, wie wir übereingekommen sind, uns zu organisieren, uns fortzubewegen, zu wohnen, uns zu ernähren oder uns zu unterhalten, führt zu einer Reihe von Problemen, die kritisch sind. Kritisch in dem Sinne, dass sie das Zeug dazu haben, unsere gegenwärtige Zivilisation zu einem relativ abrupten Ende zu bringen, zu einem unwiderruflichen und unumkehrbaren Kollaps.

Der zweite große Problemkreis, der uns bedroht, ist die Zukunft der Zivilgesellschaft. Demokratie und ihre Institutionen sind nicht gottgegeben, sondern beruhen darauf, dass der Großteil der Menschen an sie glaubt. Doch es bestehen Anzeichen dafür, dass viele aufhören, an die Demokratie als funktionierendes Gesellschaftssystem zu glauben. Den Umstand, dass es nach wie vor Missstände wie Korruption, gesellschaftliche Unfairness oder eine sich immer schneller öffnende Schere zwischen Arm und Reich gibt, schieben die sogenannten National-Populisten in aller Welt der Unfähigkeit der Demokratie und ihren Institutionen in die Schuhe. Als Lösung propagieren sie die Zerschlagung der Demokratie, ohne eine Vision anzubieten, was nachher geschehen soll. Dass die Demokratie der einzige verlässliche Garant für Freiheit, Gleichheit, Fairness oder Solidarität ist, wird von immer weniger Menschen so gesehen. Dabei steht Demokratie für etwas, das wir im Westen mehr als 300 Jahre lang bitter erkämpft haben.

Turchin hat sich auf die mathematische Modellierung historischer Gesellschaften und deren Kollaps spezialisiert. Seine Vorhersage ist schlicht und ergreifend: »2020« 

Dieses Modell war anscheinend nicht ganz exakt, aber das werden wir erst in ein paar Jahren wirklich beurteilen können. Denn 2020 wurden definitiv weitreichende Umbrüche angestoßen, wo wir noch nicht wissen, wo das Ganze zum Stehen kommen wird.

Wenn unsere Gesellschaft tatsächlich untergehen sollte, wäre das nichts Neues. Hunderte Zivilisationen und Gesellschaften haben dasselbe Schicksal erlitten. Das Einmalige an unserem Untergang wäre, dass wir dieses Mal das Zeug dazu gehabt hätten, die Klippen zu sehen, die uns zu Fall bringen.

Ein Freund, mit dem ich durch einen »Freundschaftslink« verbunden bin, schenkt mir ein Buch zum Geburtstag. Die Lektüre ändert nun zum Beispiel nachhaltig meine Sichtweise zum Thema Tierschutz. Am nächsten Tag gehe ich in eine Tierklinik und spende ihr tausend Euro, was mir nicht nur Freude macht, sondern auch viele neue Freunde einbringt. Die Interaktion, mit der mein Freund mir das Buch geschenkt hat, ändert zunächst meine Eigenschaften, indem sie meinen Altruismus steigert, und bringt mir dann eine Menge neuer Interaktionen ein.

Zu den wichtigsten Makroeigenschaften von komplexen Systemen zählen Eigenschaften wie: Stabilität, Robustheit, Effizienz, Resilienz und Anpassungsfähigkeit. Ein System ist stabil und robust, wenn es einen Schock aushält und übersteht, ohne in seiner Funktion stark beeinträchtigt zu werden.

Als ein Kipp-Punkt im Zusammenhang mit der Klimakrise gilt zum Beispiel das Auftauen von Permafrost-Böden. Eines der zentralen Probleme bei der Erforschung komplexer Systeme ist das Auffinden solcher Kipp-Punkte, beziehungsweise — noch grundlegender — jener Parameter, die zu abrupten Veränderungen des Gesamtsystems führen. Bei vielen sozialen und ökonomischen Systemen ist derzeit noch völlig unklar, welche Faktoren das sind. In der Physik, also bei »einfachen« Systemen, sind die Tipping Points, oder »Phasenübergangsparameter« hingegen oft gut bekannt, etwa der Gefrier- oder Siedepunkt. 

Der Ausfall eines Knotens im Netzwerk kann daher zum Ausfall von weiteren Knoten führen. Wenn ein Ausfall im Schnitt mehr als einen weiteren Ausfall bedingt, kann das wieder zu Kettenreaktionen führen, und es kommt zum blitzartigen Stillstand der Produktionsketten, mit katastrophalen Auswirkungen für die Wirtschaft, wie sie manche Länder während der Corona-Krise miterleben mussten. Die Funktion der Lieferkettennetzwerke, nämlich die Bevölkerung mit Nahrung, Konsumgütern und Dienstleistungen zu versorgen, verschwindet. [siehe etwa COVID-19: Die wirkliche Bedrohung! oder Wie robust sind die österreichischen Lieferketten?]

COVID-19

Laut Schätzungen hatten vor der Krise etwa ein Viertel aller Firmen in Österreich gar keine Finanz-Puffer. Sie hatten sogenanntes »negatives Eigenkapital«. Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Firmen die durch den Lock-Down verursachten Herausforderungen meistern würden, ist trotz der Staatshilfen gering. Dass sie einen Shutdown von mehreren Monaten überleben würden, war praktisch ausgeschlossen.

Wäre im Zuge der Corona-Krise das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den Banken größer gewesen, hätte das zu einem unmittelbaren Crash des Finanzsystems schon zu Beginn der Krise führen können. Viele Menschen haben im März und April 2020 bereits ihr Geld abgehoben, um es zu Hause zu verwahren. Nationalbank-Chefs verhinderten mit ihren Beschwichtigungen Schlimmeres. Wäre die Angst etwas größer gewesen, hätte sie eine für die Banken katastrophale Kettenreaktion ausgelöst. Denn heben viele Bankkunden gleichzeitig ihr Geld ab, sind die Banken auch ohne geplatzte Kredite überfordert.

Um den Gefahren eines gekoppelten Ausfalls verschiedener Systeme zu entgehen, haben einige Staaten beschlossen, das Risiko eines kollabierenden Gesundheitssystems in Kauf zu nehmen, um damit ihre Wirtschaft und das Finanzsystem zu schützen. Dass dies in einem Netzwerk internationaler Wirtschaftsverflechtungen und einem globalisierten Finanzsystem nicht notwendigerweise funktionieren muss, sieht man am Weg, den Schweden in den ersten Monaten der Corona-Krise beschritten hat. Zusammengefasst bedeutet das: Veränderungen im Verhalten ändern Netzwerke. Netzwerke existieren nicht alleine, sie sind miteinander verwoben. Das heißt, dass Veränderungen in einem Netzwerk typischerweise zu Änderungen in einem anderen führen. Das führt wieder zu einer Verhaltensänderung von Personen, Banken, Hoteliers, Ärztlnnen, was wieder zu Veränderungen in den Netzwerken führt, die sie bilden. Wir haben gesehen, dass dynamische Netzwerke eine gewisse Kollaps-Wahrscheinlichkeit besitzen. Wie ändert sich diese also, wenn man Systeme betrachtet, die nicht nur aus einzelnen Netzwerken bestehen, sondern aus zusammenhängenden Netzwerken? Die Antwort ist eine zentrale Erkenntnis aus der Wissenschaft komplexer Systeme. Shlomo Havlin, ein israelischer Physiker an der Bar-Ilan Universität in Israel, der auch mit dem Complexity Science Hub Vienna assoziiert ist, hat nachgewiesen, dass die Kollaps-Wahrscheinlichkeit von Netzwerken von Netzwerken drastisch höher ist als die einfacher Netzwerke. Verkoppelte Netzwerke sind also weitaus fragiler [siehe Netzwerke gefährdeter als gedacht].


Wir konnten in dem Experiment zeigen, dass dieser Punkt in unserem Modell für Flutkatastrophen etwa bei fünf Prozent liegt. Das heißt, eine Zerstörung von etwa fünf Prozent der Häuser, Firmen und öffentlichen Infrastruktur kann noch gut selbst repariert werden.


Finanzsystem

Das Finanzsystem ist eine der Institutionen, die für unsere Gesellschaft grundlegend notwendig sind, genauso wie das Gesundheitssystem, das Rechtssystem, das Pensionssystem und das Bildungssystem. Es hat viel mit Vertrauen zu tun: Menschen, die Kapital besitzen, stellen dieses anderen zeitweilig zur Verfügung, die es gerade benötigen, um Ideen und Projekte zu verwirklichen. Es erlaubt uns, Dinge jetzt zu realisieren und nicht erst ein Leben lang sparen zu müssen, bevor wir uns zum Beispiel eine Wohnung leisten können. Akteure im Finanzsystem vertrauen darauf, dass Vorgeschossenes auch zurückbezahlt wird. Die Tatsache, dass diese Vertrauensbildung im Finanzsystem derzeit auf einer weltweiten Basis funktioniert, ist eine großartige Kulturleistung, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind. Demokratien und offene Gesellschaften basieren auf Vertrauen. Wie wertvoll es ist, wird uns erst bewusst, wenn Vertrauen plötzlich in großem Stil verschwindet, und wenn zum Beispiel als Folge davon keine Kredite mehr vergeben werden und Verliehenes zurückgefordert wird. Eine Finanzkrise ist eine Konsequenz von spontanem Vertrauensverlust. Wenn das Finanzsystem etwas tut, was wir als Gesellschaft nicht wollen, wenn es zum Beispiel dazu beiträgt, dass Reiche reicher und Arme ärmer werden, dann liegt das nicht daran, dass das Finanzsystem an und für sich etwas Schlechtes ist. Es liegt vielmehr daran, dass wir nicht anders festgelegt haben, wie die Umverteilung des Wohlstandes aussehen soll. Es ist aber nicht die Aufgabe des Finanzsystems, dies zu tun, sondern die der Gesellschaft und des Staates. Genauso wenig ist es die Aufgabe des Finanzsystems, Wohlstand zu schaffen, oder Chancengleichheit für alle durchzusetzen. Seine Aufgabe besteht schlicht darin, Kapital für Projekte an diejenigen zu leiten, die sie umsetzen wollen und können und die es auch zurückbezahlen können.

Seit einigen Jahren lässt sich die Stabilität von wichtigen Teilen des Finanzsystems mit Hilfe der Wissenschaft komplexer Systeme berechnen. Ein zentrales Ergebnis dieser Rechnungen ist, dass das Finanzsystem seit der jüngsten Finanzkrise nicht unbedingt sicherer geworden ist, trotz großer Anstrengungen auf vielen Seiten in diese Richtung. Das systemische Risiko des Finanzsystems, im Speziellen das Kollaps-Risiko des sogenannten Interbankenmarktes, ist in manchen Ländern heute sogar deutlich höher als vor der letzten Finanzkrise.

Die Kosten und Risiken eines unkontrollierten Finanz-Crashes sind so gewaltig und seine Folgen so unabsehbar, dass in den meisten Fällen, in denen eine Bank in Schwierigkeiten kommt, diese unmittelbar von der Politik gerettet wird — meist mit Steuergeldern. Die Wissenschaft komplexer Systeme, und insbesondere der relativ junge Zweig der sogenannten Complexity Economics, hat in den vergangenen Jahren eine Menge über die Kollaps-Risiken des Finanzsystems herausgefunden. Sie hat Möglichkeiten entdeckt, wie sich dieses Risiko begrenzen und zum Teil sogar drastisch reduzieren lässt. Das heißt, man könnte das Finanzsystem nicht nur so gestalten, dass es unseren gesellschaftlichen Werten entspricht, man könnte es auch so designen, dass es unserem Bedürfnis nach Sicherheit gerecht wird. Man könnte es weitaus stabiler und resilienter machen, als es derzeit ist. Würden diese Möglichkeiten genutzt, müssten wir nicht mehr mit der Bedrohung leben, dass eine der wichtigsten Lebensadern unserer Gesellschaft von einem Tag zum anderen platzen könnte. Mit anderen Worten: Mit Hilfe von Big Data und dem Verständnis dynamischer Netzwerke, also der Wissenschaft komplexer Systeme, bekommen wir die Möglichkeit in die Hand, ein Finanzsystem mit minimalem systemischen Risiko zu schaffen.

Die Nachteile einer hohen Dichte im Finanznetzwerk sind fast ebenso offensichtlich. Dichte Finanzsysteme sind oft auch anfälliger. Ihr Kollaps-Risiko steigt.

Ein dichteres Netzwerk kann also nicht nur die Kreditausfallsrisiken für den Verleiher verringern, sondern auch das systemische Risiko erhöhen.

Wir konnten nachweisen, dass die Gefährlichkeit einer bestimmten Bank für das Finanzsystem nicht unbedingt von ihrer Größe abhängt, sondern zu einem wesentlichen Teil von ihrer Position im Netzwerk.

Wir konnten nachweisen, wie spezielle Netzwerkstrukturen, wie zum Beispiel die Netzwerkdichte und die Anfälligkeit eines Finanzsystems miteinander zusammenhängen. Das bedeutet, dass man bei den Bemühungen, das Finanzsystem effektiv zu schützen, zuerst einmal dessen Netzwerkstrukturen im Blick behalten sollte. Interessanterweise passiert das aber kaum – Netzwerkanalysen stellen nach wie vor eher eine Ausnahme in der finanzwirtschaftlichen Fachliteratur dar. Dabei spielen Netzwerke in der Wirtschaft insgesamt eine alles überragende Rolle. Praktisch alles passiert auf Netzwerken.

In der traditionellen Ökonomie, der Wissenschaft der Wirtschaft, spielen Netzwerke verblüffenderweise bis heute praktisch kaum eine Rolle. Sie wurden in den vergangenen 200 Jahren systematisch übersehen. Erst in den letzten 15 Jahren tauchen Netzwerke langsam in der Fachliteratur auf.

Der Basel-Ausschuss, der diese Regeln erstellt, warb vor jeder neuen Regelung damit, dass auf diese Weise das Kollaps-Risiko der Banken sinken würde, und das Finanzsystem damit insgesamt sicherer werden würde. Ein Versprechen, das bei genauerer Betrachtung allerdings nicht notwendigerweise hält. Es kann sogar der Fall eintreten, dass mehr Regulierung zu größerer Instabilität führt. Unseren Berechnungen zufolge reduziert die Basel III-Regulierung systemisches Kollaps-Risiko praktisch nicht.

Unsere Simulationen liefern Hinweise darauf, dass die Idee, Finanzsysteme mit größeren Puffern für die Banken abzusichern, erst dann gut funktionieren würde, wenn die Puffer etwa dreimal so groß wären, wie sie derzeit geplant sind. Solche Puffergrößen wären allerdings vollkommen unrealistisch.

Man kann sich den systemischen Risiko-Index etwa so vorstellen wie ein Thermometer. Es markiert die Tipping Points, an denen sich die Eigenschaften des Systems drastisch ändern. Solche »Thermometer« werden derzeit in der Praxis noch nicht verwendet. Was systemische Risiken angeht, tappt man also immer noch im Dunkeln, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen. Es ist fast so, als würde man nachts Autofahren und darauf verzichten, die Scheinwerfer einzuschalten.

Wir haben uns in diesem Zusammenhang gefragt: Welche Art der Regulierung würde ein Finanzsystem maximal sicher machen? Die einfach anmutende Antwort zu dieser Frage lautet: Dazu muss man die zugrundeliegenden Netzwerke verändern. Doch wie verändert man Netzwerke? Wie verändert man sie so, dass sie resilient werden? Wir haben einen Weg gefunden, mit dem genau das möglich ist. Die Grundidee basiert darauf, dass man Finanznetzwerke, also zum Beispiel Kredit-Netzwerke zwischen Banken, so umgestaltet, dass zum einen die Kettenreaktionen unterbunden werden und das Finanzsystem zum anderen, anders als bei den Basel-Regelungen, gleich effizient bleibt. 

Die Grundidee ist relativ einfach: Würde man die Transaktionen mit hohem systemischen Risiko für das Finanzsystem hoch besteuern und diejenigen mit niedrigem Risiko niedrig, dann alle rational denkenden Akteure versuchen, die systemisch gefährlichen Transaktionen zu vermeiden. Wenn viele Akteure das tun, bildet sich ein neues Transaktions-Netzwerk aus, das dann tatsächlich ein viel geringeres systemisches Gesamtrisiko aufweist. Auf der anderen Seite würden Kredite dadurch auch nicht teurer und das System auch nicht weniger effizient, weil Netzwerke nur umgestaltet und Transaktionen nicht verhindert werden. Bringt eine Transaktion kein Risiko ins Finanzsystem, ist sie steuerfrei. Befindet sich das System einmal in einem Modus, in dem kaum noch Kettenreaktionen möglich sind, werden fast alle Transaktionen automatisch steuerfrei. Die Steuer schafft sich also effektiv durch ihren Erfolg selbst wieder ab.

Wir haben die Systemic Risk Tax in diesem Agenten-basierten Modell virtuell eingeführt und gezeigt, dass sie, was die Reduktion des systemischen Risikos betrifft, weitaus effektiver als die Basel-Regulierung funktioniert.

Unser Ergebnis war eindeutig: Mit der Tobin Tax würde das systemische Risiko des Finanzsystems zwar etwas sinken, mit der Systemic Risk Tax sinkt es aber deutlich mehr. Während durch die Tobin Tax Kredite teurer werden und das System dadurch merklich ineffzienter wird, ist das bei der Systemic Risk Tax nicht der Fall.

Die Systemic Risk Tax hat jedoch ein Problem. Staaten müssten sie gleichzeitig einführen, sonst könnten Banken und Spekulanten sie umgehen, indem sie systemisch riskante Transaktionen über andere Länder ohne Systemic Risk Tax abwickeln. Ihre Einführung müsste also auf einem, zum Beispiel Euro-Zone weiten, internationalen Konsens basieren. Auch wenn es derzeit nicht realistisch aussieht, eine Systemic Risk Tax wirklich einzuführen, so ist dennoch wissenschaftlich bereits erwiesen, dass die Möglichkeit besteht, systemisches Risiko drastisch zu reduzieren.

Die Arbeitsweise der klassischen Ökonomie hingegen gibt weniger Anlass zur Hoffnung. Sie arbeitet oft immer noch so, wie sie tief im 20. Jahrhundert gearbeitet hat, obwohl sich die Welt und mit ihr die Wirtschaft und das Finanzsystem inzwischen gewaltig verändert haben.

Trotz falscher Grundannahmen und widerlegter Konzepte werden weiterhin Nobelpreise dazu vergeben. Das wäre in den Naturwissenschaften vollkommen undenkbar, wo Theorien oder Modelle, die in Widerspruch zu empirischen Daten und Fakten stehen, verworfen und verbessert werden müssen.

Wenn man diese Netzwerke aber ignoriert und die vielen Teilnehmer einer Wirtschaft zu »repräsentativen« Agenten zusammenfasst, kann man nicht erwarten, dass man Effekte, die ursächlich mit Netzwerken zusammenhängen, richtig verstehen kann. Systemischer Kollaps zum Beispiel ist so ein Netzwerkeffekt. Innovationen passieren also nicht kontinuierlich, sondern laufen als Kettenreaktionen ab. Diesen Mechanismus hat der große österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter [„Die schöpferische Zerstörung“] bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert postuliert. Er konnte mit Welthandelsdaten vor wenigen Jahren erstmals bestätigt werden.

Weder die Wissenschaft komplexer Systeme noch die Complexity Economics haben den Anspruch, die Zukunft vorherzusagen. Complexity Economics verspricht lediglich, die Auswirkungen und Konsequenzen gewisser Ereignisse auf Basis der Kenntnis von Zusammenhängen den Netzwerken – im Vorhinein abschätzen zu können.

Sie kann also zum Beispiel sagen, welche Regulierungsmaßnahme wie viel systemisches Risiko aus dem System nimmt. Einer der zentralen Punkte der Wissenschaft komplexer Systeme ist wie gesagt das Auffinden der kritischen Punkte, der Tipping Points, die wir in Kapitel drei besprochen haben. Wird so ein kritischer Punkt erreicht, ändert sich das System oft radikal, weil Kettenreaktionen ausgelöst werden. Wie erwähnt, sind die kritischen Punkte vergleichbar mit dem Siede- und dem Gefrierpunkt von Wasser.

Ein weiteres, nicht-technisches Problem der Complexity Economics besteht darin, dass man sich daran gewöhnen muss, dass Algorithmen Probleme lösen können, die Experten eventuell nicht mehr überwachen können. Hier entsteht eine Reihe von neuen Gefahren, die mit dem Abgeben von Macht und Kompetenz an Algorithmen einhergehen, und die im Zuge der Digitalisierung in einem breiten gesellschaftlichen Dialog gelöst werden müssen.

Klimakrise

Noch nie seitdem der Planet existiert – sind Arten so schnell ausgestorben wie jetzt. Sie tun es hundertmal schneller als unter natürlichen Umständen. Mehr als eine Million der 1,2 Millionen katalogisierten Arten sind bedroht. Das Aussterben ist nicht nur schon jetzt das schnellste aller Zeiten, es beschleunigt sich auch noch.

Und sobald wir einmal bei zwei Grad sind, werden wir durch eine Reihe von Rückkopplungsschleifen bald bei vier Grad sein, schätzt er. Der Mensch würde als Spezies zwar irgendwie überleben, aber diese Erwärmung würde alles zerstören, was wir in den vergangenen 2000 Jahren geschaffen haben. »Bei einer um vier Grad wärmeren Welt ist es schwierig zu sehen, wie wir eine Milliarde Menschen, oder auch nur die Hälfte davon, darin unterbringen können«, sagt Johan Rockström, ebenso Wissenschaftler am PIK.

Die vielen komplexen Systeme, die über das Klima miteinander unmittelbar verbunden sind, stellen ein weitaus komplexeres System dar als etwa das Finanzsystem.

Halten wir uns die gesamte Biomasse an Wirbeltieren, inklusive der Menschen vor Augen, besteht etwa ein Drittel davon aus Menschen und zwei Drittel aus Tieren, die sich der Mensch als Nahrung hält. Nur noch drei Prozent aller Wirbeltiere leben frei und wild. Diese Tierpopulation ist von 1970 bis heute um sechzig Prozent zurückgegangen.

Die Ozeane sind aber auch die wichtigsten Sauerstoffversorger des Planeten. Neunzig Prozent des CO-Kreislaufs geht über die Meere. Sie nehmen C02 auf, Plankton, Algen und anderen Pflanzen produzieren Biomasse und binden so Kohlenstoff. Als »Abfallprodukt« geben sie Sauerstoff ab. Die Hälfte des Sauerstoffs in der Atmosphäre wird so bereitgestellt.

Energieverbrauch

Derzeit stoßen wir circa 35 Gigatonnen CO2 pro Jahr aus. Seit Beginn der Industrialisierung hat die Menschheit mehr als 530 Gigatonnen Kohlenstoff verbrannt, von dem sich etwa die Hälfte in der Atmosphäre und der Rest zu einem Gutteil in den Ozeanen befindet. Der Weltenergieverbrauch ist nach wie vor vollkommen dominiert von fossiler Energie, 2018 waren 85 Prozent der Primärenergie fossiler Herkunft, elf Prozent kamen aus erneuerbaren Quellen wie Solar; Wind; Geothermie und Gezeiten (zusammen vier Prozent) und Wasserkraft (sieben Prozent). Weitere vier Prozent kamen aus der Nuklearenergie. Die weltweite Zunahme des Energieverbrauches liegt derzeit bei etwa drei Prozent im Jahr. Sie wird hauptsächlich von asiatischen Ländern getrieben. Daran ändert auch nichts, dass einige Länder wie Kalifornien, Norwegen oder Österreich den Plan verfolgen, ihre Stromerzeugung in den kommenden Jahren vollständig auf erneuerbare Energien umzustellen.

Der Flugverkehr verursachte 2018 mit etwa 0,9 Gigatonnen 2,5 Prozent der globalen CO-Emissionen. Achtzig Prozent davon betrafen Personenreisen, der Rest war Fracht. Der Autoverkehr macht in Deutschland etwa zwanzig Prozent der CO-Emissionen aus, weltweit ist der Anteil des Autoverkehrs natürlich geringer. Die globale Schifffahrt trägt etwa 2,5 Prozent bei. Weltweit verursacht der Transport etwa 15 Prozent der Treibhausgase und 95 Prozent der hierfür aufgewendeten Energie kommt aus Erdöl, Emissionen von Haushalten, etwa durch Heizen und Kochen, machen etwa sechs Prozent aus, Emissionen zur Produktion von elektrischer Energie nicht mitgerechnet. Für kommerzielle Unternehmungen kommen weitere fünf Prozent dazu, und auch der CO-Fußabdruck des Internets ist ein Faktor, der zunehmend relevant wird. Mehr als vier Milliarden Menschen benutzen das Internet. Die dafür notwendige Energie trägt, manchen Studien zufolge, zwischen 1,7 und 3,7 Prozent zu den globalen CO2-Emissionen bei, also etwas mehr als die Klimabelastung aller Flugreisen. Alles bisher genannte zusammen macht aber nur etwa die Hälfte der anfallenden Emissionen aus. Woher kommt die andere Hälfte? Sie entsteht vorwiegend durch die Produktion von elektrischer Energie (dreißig Prozent) sowie die Förderung von Rohstoffen und die Landwirtschaft (elf Prozent). Der verbleibende Anteil kommt von der Industrie.

URSACHE INFRASTRUKTUR

Ein oft unterschätzter Faktor bei den Emissionen ist die Rolle der Infrastruktur. Zur Infrastruktur gehören nicht nur der Bau von Straßen, Autobahnen, Flughäfen, Bahntrassen, Kanälen oder Häfen, sondern auch der Bau von Städten, Wasserleitungen, Bergwerken, Schottergruben, Pipelines und Kraftwerken. All das erfordert Zement und Stahl, und zwar nicht nur bei der Errichtung, sondern und das wird oft übersehen – auch bei der Instandhaltung.

Wir denken fälschlicherweise oft, dass Infrastruktur, wenn einmal gebaut, keine Klimabelastung mehr darstellt. Tatsächlich erneuern wir Autobahnen und praktisch jede andere Infrastruktur im Zuge von Instandhaltungsarbeiten alle paar Jahrzehnte.

Etwa ein Viertel aller CO-Emissionen entfallen auf die Erzeugung und Erhaltung von Infrastruktur. Auch beim Thema Infrastruktur gibt es einen sich selbstverstärkenden Mechanismus: Infrastruktur schafft mehr Infrastruktur. Je mehr Infrastruktur gebaut wird, zum Beispiel eine Straße, umso mehr Verkehr entsteht, umso mehr Aktivität findet in einer Region statt, umso mehr Nachfrage nach weiteren Straßen und wirtschaftlicher Infrastruktur entsteht. Das größte jemals in Angriff genommene Infrastrukturprojekt ist die neue Seidenstraße. 35 Prozent des Welthandels könnten zukünftig über sie abgewickelt werden. Wie viele Tonnen Infrastrukturmaterial dafür benötigt werden und wie viele Tonnen CO2 damit in die Atmosphäre gelangen werden, ist unfassbar.

Urbanisierung: Das heißt, dass städtische Infrastruktur für etwa vier Milliarden Menschen geschaffen werden muss.

In den letzten fünfzig Jahren hat sich der Fleischkonsum weltweit etwa vervierfacht. Für den Zeitraum von 2000 bis 2050 geht man von einer weiteren Verdopplung aus. Die für den Fleischkonsum notwendigen Flächen sind enorm. Etwa ein Viertel der Erdoberfläche wird zur Tierhaltung und zum Anbau von Futtermitteln verwendet. Die EU importiert Futtermittel, meist Soja aus Südamerika, von geschätzten 30 Millionen Hektar Anbaufläche. Das ist die Fläche der Niederlande, Portugals, Dänemarks und Ungarns zusammen. Der Jahresfleischverbrauch eines Mitteleuropäers entspricht etwa tausend Quadratmetern Fläche, für den Kartoffelverbrauch sind es nur 15 Quadratmeter.

Eine schrittweise Ächtung der fossilen Kultur wäre wünschenswert, welche die notwendigen Änderungen und ihre Konsequenzen mental vorbereiten würde. Solche mentalen Veränderungen und damit zusammenhängende Verhaltensänderungen im Konsumverhalten müssen allerdings in vielen Millionen Knotenpunkten simultan stattfinden, andernfalls wird sich dafür kein Konsens finden lassen und es wird keine Akzeptanz für die notwendigen Schritte geben.

Angstmache und Horrorszenarien, auch wenn sie noch so real sind, reichen da vermutlich nicht aus.

Zivilgesellschaft / Demokratie / Freiheit

Viele glauben, dass die Institutionen wie die EU, die UNO oder die WTO dazu beitragen, eine kleine Elite zu fördern, die Macht und Wohlstand an sich reißt. Einige Gruppen nutzen diese Enttäuschung und wollen die Gesellschaft in der bestehenden Form zerschlagen, allen voran die sogenannten Populisten. Der Kreis dieser Bewegung ist weltweit ungemein erfolgreich und umfasst inzwischen eine Reihe von Präsidenten und Premierministern. Die Botschaften und Erklärungen dieser Bewegung sind oft banal und erfassen die Ursachen der Probleme nur sehr unzureichend.

Robin Dunbar von der Universität Oxford hat nachgewiesen, dass eine Gruppe mit etwa 150 Mitgliedern die meisten sozialen Beziehungen innerhalb der Gruppe noch mental erfassen kann. Die Institutionen dieser Gesellschaften sind also noch für alle Beteiligten überschaubar und klar nachvollziehbar. Die Hierarchie in diesen Gesellschaften ist daher relativ flach.

Regeln, Gesetze, Regulierungen und soziale Normen bestimmen, wie wir Netzwerke knüpfen. Wie sie im Detail aussehen, ist dann oft zufällig. Die Regeln bestimmen also den Rahmen, innerhalb dessen sich die Netzwerke mehr oder weniger zufällig und selbst-organisiert aufbauen und verändern.

Der wirtschaftliche Erfolg Chinas ist beachtlich: So konnte zum Beispiel der Anteil der Bevölkerung, der eine Krankenversicherung besitzt, von zehn Prozent im Jahr 2004 auf 95 Prozent im Jahr 2016 angehoben werden. China konnte auch extreme Fortschritte in der Armutsbekämpfung erzielen und Infrastrukturprojekte, wie die neue Seidenstraße, auf den Weg bringen. Man denke, wie umständlich, langsam und letztlich oft erfolglos, entsprechende Projekte im Westen sind.

China zählt in dieser Hinsicht zu den ungleichsten Ländern der Welt. Das reichste Prozent der Haushalte besitzt ein Drittel des Gesamtvermögens, die ärmsten 25 Prozent besitzen nur ein Prozent.

Nationalpopulisten vereinigen rechtes politisches Gedankengut mit Populismus, also dem Konzept, Dinge zu sagen, die politische Mehrheiten bringen, egal ob sie wahr oder falsch sind. In den vergangenen Jahren hat sich der Nationalpopulismus global erfolgreich etabliert und ist in vielen Ländern in Regierungen vertreten.

Generell gilt, dass nationalpopulistische Spielregeln zu einem Übergang von derzeit flachen und egalitären zu hierarchischen Netzwerkstrukturen führen würde. Und das auf vielen Ebenen. Wenn Institutionen zerschlagen werden, heißt das, dass die Macht in die Hände von Einzelpersonen, also Führern, gelangt. Die Erfahrung des Machtmissbrauchs einzelner Personen ohne die notwendigen institutionellen Kontrollen hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den allmählichen Aufbau solcher machtausgleichenden Institutionen erst befeuert. Wenn Macht in die Hände von Einzelpersonen und kleiner Eliten gelangt, bedingt das meist steile Hierarchien, die sich in Folge auch in hierarchischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Netzwerken niederschlagen. Als Konsequenz entscheidet eine kleine Elite über die Umverteilung des erwirtschafteten Wohlstandes und die Rechte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen.

Filterblasen

Filterbubble: Sie bekommen also nicht mehr die Suchergebnisse gereiht nach der objektiven Wichtigkeit der betreffenden Webpage, sondern nach Ihren persönlichen Interessen und nach dem, was ein Algorithmus »denkt«, was Sie hören wollen. Alles andere sehen und hören Sie nicht mehr. Filterbubbles schränken also den großen, weiten Horizont der weltweit verfügbaren Information ein, auf den viel kleineren eigenen Horizont. Im Glauben, sich objektiv zu informieren, bekommt man auf seine Fragen eine Mischung von Fakten und seinen eigenen subjektiven Vorlieben und Meinungen. Man erhält so ein vollkommen verzerrtes und falsches Bild der Welt. Das Gefährliche dabei: Man weiß nicht, wie verzerrt und falsch es ist. Besonders unangenehm ist die Vorstellung, dass Algorithmen entscheiden, was sie mir als Wahrheit vorspiegeln und was nicht.

Wenn ich aus meiner Welt gezielt Informationen ausblende, und nur mehr das wahrnehme, was mich interessiert, oder was ich sehen will, dann kann ich nicht erwarten, ein objektives Bild der Welt zu bekommen. Ich lebe dann in einer »Echokammer«. Ich höre das, was ich selbst hineinrufe. Die neuen Technologien verstärken diesen Echo-Effekt massiv.

Google übernimmt die Rolle einer weisen Vertrauensperson. Wir bezweifeln nicht, dass Google recht hat. Google ist die Quelle der Wahrheit.

Die Linke fokussiert immer weniger auf Solidarität und Umverteilung, sondern vertritt zunehmend die Interessen einer Vielzahl von Randgruppen, wie ethnische Minderheiten, Immigranten, Flüchtlinge, LGBT (lesbisch, schwul, bisexuell und transgender). Die Rechte entdeckt Themen wie Schutz der nationalen Werte, Rasse, Kultur und Religion als ihre besten Zugpferde. Laut Fukuyama geht es beiden Gruppen immer weniger um wirtschaftlichen Wohlstand und wie er am besten zu erreichen und zu verteilen ist, sondern um Gefühle. Parteien kümmern sich zunehmend um die Gefühle einzelner Gruppen und deren Verletzung durch andere. Jede Gruppe will anerkannt sein und respektiert werden. Über die Zeit differenzieren sich diese Gruppen in immer kleinere Grüppchen, die sich gegeneinander abgrenzen.

Das New York Office von Google alleine beschäftigt knapp 4.000 der besten ComputerwissenschaftlerInnen, MathematikerInnen und PhysikerInnen, und möchte diese Zahl in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Das Durchschnittsgehalt eines Software-Ingenieurs liegt bei knapp 150.000 US-Dollar exklusive Bonus. Mit zusätzlichem Talent gibt es auch Einstiegsgehälter zwischen 200.000 und 300.000 US-Dollar. Keine Universität, keine Regierung, keine Stadtverwaltung der Welt kann mit solchen Gehältern mithalten. Zum Vergleich: Eine der bestzahlenden Universitäten, die ETH Zürich, entlohnt ihre ProfessorInnen mit ungefähr 190.000 bis 250.000 Euro jährlich. Das führt notgedrungen dazu, dass die smartesten Kids von Datenkonzernen abgesaugt werden und weder für die unabhängige Forschung, die öffentliche Verwaltung, noch für andere gesellschaftlich relevante Bereiche zur Verfügung stehen. Das stellt für die Zivilgesellschaft ein massives Problem dar. Es erzeugt ein Daten-Ungleichgewicht zwischen einigen wenigen, die die Kontrolle haben, und dem großen Rest der Welt.

Unicorns, also Startup-Unternehmen mit einem Börsenwert jenseits einer Milliarde Dollar. Ob Städte wie Wien, München oder Köln hier in Zukunft mitspielen werden, ist alles andere als entschieden. Die Anzahl der dort gesichteten Einhörner ist nicht so beeindruckend. Während in China im Jahr 2020 bereits 125 und in den USA 124 Unicorns existieren, sind es in Deutschland gerade einmal zwei.

Wir müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Art der Manipulation wir erlauben wollen und welche nicht: Wir haben Werbung für Zigaretten oder Medikamente verboten, wieso ist aber verdeckte personalisierte Werbung, die punktgenau auf unsere Psyche und Schwächen abzielt, erlaubt?

In ganz China soll es bereits an die 600 Millionen Überwachungskameras geben. Wer sich etwas zuschulden kommen lässt und von einer der Kameras auf der Straße, in der U-Bahn oder im Stadion zum Beispiel mit Gesichtserkennung entdeckt wird, erscheint mit Foto und Beschreibung der Verfehlungen auf den nächstgelegenen Bildschirmen – für alle sichtbar, mit Namen und Vergehen. Auch zur Bekämpfung der Corona-Pandemie wurden diese Kameras verwendet, um Infizierte zu lokalisieren und Heimquarantäne zu überwachen. In vielen Gebäuden verschließen sich die Türen für Menschen mit Fieber. Dieser scheinbare Science-Fiction-Horror ist Realität. Seit dem Jahr 2020 funktioniert der Citizen Score in ganz China so gut wie flächendeckend.

Er bewirkte unter anderem, dass bereits 2019 Millionen Chinesinnen und Chinesen kein Flugticket mehr kaufen konnten, weil ihr Verhalten nicht den Vorstellungen der Partei entsprach.