Quelle: www.tagesschau.de

Wir erwarten Katastrophen dieses Ausmaßes wie jetzt beim Hochwasser nicht mehr“, sagt Katastrophenforscher Martin Voss. Er warnt vor einfachen Schuldzuweisungen – und sieht die Welle der Solidarität als größten Schatz.

tagesschau.de: Hat der Katastrophenschutz in Deutschland versagt?

Martin Voss: Im internationalen Vergleich ist Deutschland beim Katastrophenschutz eigentlich ganz gut aufgestellt. Nur hilft der internationale Vergleich wenig, wenn sich Gefahren grundlegend ändern. Wir müssen vielmehr auf diese veränderten Gefahren gut angepasst und vorbereitet sein – und das sind wir eindeutig nicht.

tagesschau.de: Warum sind wir so schlecht vorbereitet?

Voss: Es ist ein grundlegendes Problem. Wir sind gut vorbereitet auf Gefahren, die wir aus der Vergangenheit kennen – dazu gehört auch extremes Wetter. Aber nur in dem Ausmaß und Format, wie wir sie auch früher kannten. Und bezogen auf eine Gesellschaft, wie sie früher einmal war. Heute ist aber vieles anders.

tagesschau.de: Konkret?

Voss: Heute ist die Landschaft dicht bebaut, die Flächen sind versiegelt, unterhöhlt. Wir haben den natürlichen Raum um uns herum fundamental umgestaltet. Dann hat sich die Gesellschaft extrem verändert. Viel Eigentum, viel Luxus, der entsprechend Schaden nehmen kann. Die materielle Verletzlichkeit ist sehr viel höher geworden. Hinzu kommt die individuelle Betroffenheit: Wir sind älter geworden, empfindlicher bei zugleich höheren Ansprüchen an andere, wie etwa den Staat. Kurz: Wir sind – wenn überhaupt – nur sehr bescheiden vorbereitet.

tagesschau.de: Wir sind also nicht auf der Höhe der Zeit?

Voss: Vor allem, wenn es um den Umgang mit komplexeren Katastrophen geht. Ein länger andauernder Stromausfall, ein Cyberangriff oder ein globaler Crash an den Finanzmärkten können unsere Gesellschaft zerrütten. Und es kann auch vieles zusammen kommen, wie wir gerade erleben. Nur weil wir gerade eine Pandemie haben, macht das Wetter, macht auch der Klimawandel nicht Halt.

tagesschau.de: Die Bilder aus den Hochwassergebieten machen fassungslos. Die meisten Menschen wirken überrascht vom Ausmaß der Verwüstung mitten in Deutschland.

Voss: Ja, wir erwarten solche Katastrophen hier bei uns nicht mehr, weil wir doch so hochtechnisiert und so wohlhabend sind. Und wenn doch so etwas passiert, dann muss ja wenigstens jemand Schuld sein.

tagesschau.de: Wie können wir uns denn auf solche Katastrophen vorbereiten?

Voss: Wir müssen anfangen, präventiv zu denken. Also: Wie leben wir eigentlich und welche Risiken entstehen aus dieser Art zu leben? Damit hängt zusammen, wie wir unsere Landschaft gestalten, wie wir Städte planen, wie unser Konsumverhalten aussieht. Diese Verletztheit müssen wir angehen, so schwierig das ist. Das Problem ist komplex, aber wir dürfen uns dem nicht weiter verschließen. Einfache technische Antworten reichen nicht mehr, wie etwa den Deich noch mal ein bisschen zu erhöhen.

tagesschau.de: Wir müssen den Umgang mit Katastrophen lernen?

Voss: Ja, wir müssen es wieder lernen. Denn wir haben es im Verlauf der Jahrhunderte verlernt. Früher war sich der Mensch seiner Verletzlichkeit anders bewusst als die deutsche Gesellschaft im Jahr 2021. Früher hatte man sich immer darauf eingerichtet, dass man sterblich ist, dass jeden Moment etwas passieren kann, dass man die Natur nicht unter Kontrolle hat.

tagesschau.de: Wir können aber als Gesellschaft nicht zurück ins 18. Jahrhundert …

Voss: Natürlich nicht. Aber unser Risikoverhalten fordert einen Preis – und das müssen wir anders abwägen.

tagesschau.de: Man kann also nicht sagen: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat hier im konkreten Fall versagt?

Voss: Ich befreie hier niemanden von der Verantwortung. Es ist die gesamte Gesellschaft, da gehört das Amt für Bevölkerungsschutz natürlich dazu. Aber dann muss man die Behörde auch entsprechend ausstatten – mit finanziellen Mitteln und der gesellschaftlichen Anerkennung.

tagesschau.de: Was meinen Sie damit?

Voss: Es muss die Forderung nach einer starken Behörde geben, die Informationen zusammenführen und weitergeben kann, die einen Dialog mit der Gesellschaft moderieren und gestalten kann, so dass ein Gefahrenbewusstsein überhaupt erzeugt werden kann – nur wenn man diese Ausstattung und Nachfrage schafft, kann man hinterher auch sagen: Hier hat das Amt für Katastrophenschutz versagt.

„Solidarität trägt uns durch die Krise“

tagesschau.de: Wenn Sie sagen, wir müssen den Umgang mit Katastrophen wieder lernen, zugleich sehen wir diese Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft. Das sind doch äußerst positive Zeichen, dass diese Gesellschaft zusammensteht in größter Not …

Voss: Auf jeden Fall. Diese Solidarität, dieses riesige gesellschaftliche Engagement ist eine Ressource, auf die wir achten müssen, wie auf den größten Schatz. Das dürfen wir nicht verlieren. Denn am Ende trägt uns das durch die Krise, die Katastrophe. Das funktioniert gut in Deutschland, aber es ist ein heikles Gut, das auch verspielt werden kann.

tagesschau.de: Welche Lehren müssen wir aus dieser Katastrophe ziehen?

Voss: Ich habe kürzlich versucht, eine Liste für Lehren aus der Pandemie zu erstellen. Es ist eine sehr lange Liste geworden. Sie bezieht natürlich andere Szenarien mit ein. Kurz gesagt: Wir brauchen ein Forschungszentrum zur Resilienz und zum Schutz der Bevölkerung, unabhängig und unpolitisch, wo wir alle Informationen und Entscheidungsgrundlagen zusammenführen und vertiefen. Denn es ist ja nicht so, dass Einzelwissen nicht vorhanden wäre. Wir wissen viel über Extremwetter, über das Klimageschehen, über Naturgefahren, aber das alles zu integrieren und in seinem Wechselspiel zu denken, da sind wir auf einem Niveau des späten 19. Jahrhunderts.

Das Gespräch führte Wenke Börnsen, tagesschau.de
 

Zur Person

Martin Voss ist Leiter der Katastrophenforschungsstelle Berlin (KFS) an der FU-Berlin. Der Sozialwissenschaftler beschäftigt sich vor allem mit der Risiko-, Krisen- und Katastrophenforschung. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie war er Mitautor einer Studie zu den Lehren aus der Pandemie für den Bevölkerungsschutz in Deutschland.

Kommentar

Ein hervorragendes Interview, dass die Dinge auf den Punkt bringt! Leider keine guten Voraussetzungen, um mit den erwartbaren Umbrüche erfolgreich umzugehen.