Quelle: www-nzz-ch
Corona hat gezeigt: Es gibt kaum noch einen Unterschied zwischen Natur- und menschengemachten Katastrophen.
Katastrophen sind Augenblicke der Wahrheit
Eine Katastrophe legt die von ihr getroffenen Gesellschaften und Staaten bloss. Es ist ein Augenblick der Wahrheit, der Offenbarung – einige erweisen sich als zerbrechlich, andere als resilient und manche (um es mit Nassim Nicholas Taleb zu sagen) als «antifragil» – sie sind nicht nur imstande, der Katastrophe zu widerstehen, sondern fähig, gestärkt aus ihr hervorzugehen. In diesem Sinne sind alle Katastrophen von Menschen verursacht, weil unser Handeln (einschliesslich unserer politischen Vorbereitungen und Reaktionen) festlegt, wie hoch die Übersterblichkeit ausfällt.
Katastrophen haben es an sich, dass sie schwer vorherzusehen sind. Bei manchen handelt es sich um «vorhersagbare Überraschungen» – wie Michelle Wuckers «graue Rhinos», die auf uns zustürmen. Doch manchmal können diese grauen Rhinos, wenn sie zuschlagen, sich in Talebs «schwarze Schwäne» verwandeln – in verwirrend erscheinende Ereignisse, von denen man jetzt behauptet, niemand habe sie vorhersehen können.
Das liegt zum Teil daran, dass viele katastrophale Ereignisse von Potenzgesetzen gesteuert werden und nicht von einer normalen Wahrscheinlichkeitsverteilung, wie sie unser Gehirn besser verstehen kann. Die Häufigkeitsverteilung von Pandemien gleicht nicht der vertrauten Glockenkurve, bei der die meisten Ausbrüche um den Mittelwert versammelt sind. Wenn man das Ausmass von Pandemien gegen die Häufigkeit ihres Auftretens als logarithmische Kurve aufzeichnet, erhält man eine Gerade. Das gilt auch für Erdbeben.
Das heisst, es gibt keine durchschnittlichen Pandemien oder Erdbeben; es gibt wenige sehr grosse Ereignisse und sehr viele kleinere, und es ist unmöglich, dem Zeitpunkt eines sehr grossen Ereignisses eine Wahrscheinlichkeit zuzuordnen. Das gilt auch für von Menschen verursachte Katastrophen wie Kriege und Revolutionen (die eher katastrophal ablaufen) sowie für Finanzkrisen – ökonomische Katastrophen, die weniger Tote fordern, aber oft vergleichbar zerstörerische Folgen haben.
Geschichte definiert sich auch durch die Tatsache, dass es weit mehr schwarze Schwäne gibt, als wir in einer durch Normalverteilung charakterisierten Welt erwarten würden – ganz zu schweigen von den Ereignissen, die Didier Sornette als «Drachenkönige» bezeichnet und die sich in einer Grössenordnung abspielen, die sogar noch ausserhalb einer Potenzgesetz-Verteilung liegt. All diese Ereignisse sind keine berechenbaren Risiken – sie gehören ins Reich der Ungewissheit.
Ausserdem ist die von uns aufgebaute Welt im Lauf der Zeit zu einem immer komplexeren System geworden – anfällig für alle Arten von zufallsbestimmtem Verhalten, nichtlinearen Zusammenhängen und Verteilungskurven mit breiten Ausläufern. Eine Katastrophe von der Art einer Pandemie ist kein einzelnes, präzise abgrenzbares Ereignis. Sie führt unausweichlich zu anderen Katastrophenformen – ökonomisch, gesellschaftlich und politisch. Es kann zu Kaskaden oder Kettenreaktionen von Katastrophen kommen (was auch oft geschieht). Je stärker die Welt vernetzt ist, desto häufiger werden wir das erleben.
Der Umgang mit Katastrophen wird darüber hinaus durch die Tatsache erschwert, dass unsere politischen Systeme Personen in Führungsrollen befördern, die gegenüber den oben geschilderten Herausforderungen besonders ignorant erscheinen: eher Subprime-Prognostiker als Superprognostiker, um den von dem Politwissenschafter Philip Tetlock geprägten Ausdruck zu benutzen.
Fünf Fehler
Die Psychologie militärischer Inkompetenz war Gegenstand einer herausragenden Studie von Norman Dixon; über die Psychologie politischer Inkompetenz als eines verbreiteten Problems ist weniger geschrieben worden. Einzelne inkompetente Politiker fallen uns problemlos ein. Aber können wir allgemeine Formen politischen Fehlverhaltens auf dem Gebiet der Katastrophenvorbereitung und der Schadensminderung ausfindig machen? Hier bieten sich fünf Kategorien an:
- Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen.
- Mangel an Vorstellungsvermögen.
- Neigung, den letzten Krieg oder die letzte Krise durchzukämpfen.
- Unterschätzen der Gefahr.
- Hinausschieben oder auf eine Gewissheit warten, die sich nie einstellt.
Zum Teil ist das ein Problem der Anreize. Anführer werden selten für das belohnt, was sie zur Vermeidung von Katastrophen getan haben – das Ausbleiben einer Katastrophe ist selten ein Grund für Jubelfeiern und Dankbarkeit –; häufiger wirft man ihnen das Leiden vor, das die von ihnen empfohlenen Vorbeugungsmassnahmen verursachen.
Doch nicht alle Fehler im Umgang mit Katastrophen sind Führungsfehler. Oft findet man den eigentlichen Schwachpunkt weiter unten in der Hierarchie der Organisation. So bewies der Physiker Richard Feynman nach der Zerstörung der Raumfähre Challenger im Jahr 1986, dass der fatale Fehler nicht der Ehrgeiz im Weissen Haus gewesen war, den erfolgreichen Start mit einer Präsidentenrede zusammenfallen zu lassen. Der Grund war, dass Bürokraten der mittleren Ebene bei der Nasa darauf bestanden hatten, das Risiko eines katastrophalen Fehlers mit 1:100 000 zu bewerten, obwohl die eigenen Ingenieure es mit 1:100 einschätzten.
Es gibt, wie es der republikanische Kongressabgeordnete Tom Davis nach dem Hurrikan «Katrina» ausdrückte, eine «breite Kluft zwischen der Erstellung und der Umsetzung von Richtlinien».
Was bringt eine Menge dazu, von Klugheit in Verrücktheit umzukippen?
Die Antworten findet man in der sich verändernden Struktur der öffentlichen Sphäre. Denn eine Katastrophe wird nur von einer Minderheit direkt erlebt. Alle anderen erfahren durch irgendein Kommunikationsnetzwerk von ihr.
Was zu tun ist
Erstens sollten wir nicht länger versuchen, Katastrophen vorherzusagen oder ihnen gar Wahrscheinlichkeiten zuzuordnen. Von Erdbeben über Kriege bis hin zu Finanzkatastrophen – die herausragenden Zusammenbrüche der Geschichte folgten einer zufallsbestimmten Verteilung oder Potenzgesetzen. Sie gehören nicht in den Bereich des Risikos, sondern ins Reich der Ungewissheit. Es ist besser, das zuzugeben, anstatt uns mit unerreichbarer und wahrscheinlich irreführender Präzision selbst zu täuschen.
Zweitens treten Katastrophen in zu vielen Formen auf, als dass wir sie mithilfe der üblichen Ansätze zur Risikominderung behandeln könnten. Kaum hatten wir unser Denken auf die Gefahr durch den salafistischen Jihad eingestellt, sahen wir uns in einer Finanzkrise, die ihren Ursprung in Schrotthypotheken hatte. Kaum hatten wir erneut begriffen, dass ökonomische Schockerlebnisse dieser Art oft populistische politische Gegenreaktionen nach sich ziehen, führte ein neuartiges Coronavirus ins Chaos. Was kommt als Nächstes? Das können wir nicht wissen. Für jedes mögliche Unheil gibt es mindestens eine plausible Kassandra. Nicht alle Prophezeiungen können beherzigt werden.
In den letzten Jahren haben wir möglicherweise einem Risiko – dem Klimawandel – erlaubt, unsere Aufmerksamkeit von anderen abzuziehen. Im Januar 2020, als bereits eine globale Pandemie anlief – als Flugzeuge mit infizierten Personen von Wuhan aus zu Zielen in aller Welt flogen –, kreisten die Debatten beim Weltwirtschaftsforum fast ausschliesslich um Fragen zur Umweltverantwortung, zu sozialer Gerechtigkeit und Regierungsführung (mit Betonung auf Umwelt).
Die Gefahren, die aus steigenden Globaltemperaturen erwachsen, sind real und potenziell katastrophal, doch der Klimawandel kann nicht die einzige Gefahr sein, auf die wir uns vorbereiten. Es war keine blosse Koinzidenz, dass unter den Orten, die sich 2020 am besten hielten, drei waren – Taiwan, Südkorea und (trotz einem ernsten Rückschlag im Sommer) Israel –, die sich einer Vielzahl von Gefahren gegenübersehen, was existenzielle Bedrohungen durch Nachbarn einschliesst.
Sicherungen müssen eingebaut werden
Drittens, je vernetzter die Gesellschaften werden, desto grösser ist die Ansteckungsgefahr – das betrifft nicht nur die biologische Variante. Eine vernetzte Gesellschaft benötigt gut durchdachte Sicherungen, die in einer Krise die Konnektivität des Netzes rasch verringern können, ohne die Gesellschaft vollständig zu vereinzeln und zu lähmen. Jede Katastrophe wird zudem durch Informationsflüsse verstärkt oder gedämpft. 2020 war es Desinformation – beispielsweise virale falsche Nachrichten über Scheintherapien oder sehr sichere Impfstoffe –, die Covid-19 vielerorts verschlimmerte.
Demgegenüber trug die effektive Lenkung von Informationsflüssen über infizierte Personen und ihre Kontakte dazu bei, in ein paar gut verwalteten Gesellschaften die Pandemie einzudämmen. Daraus lässt sich nicht schliessen, dass grosse Technologiefirmen noch mehr Macht bekommen sollten, uns zu zensieren und unsere Bewegungen nachzuverfolgen. Wir sollten vielmehr von Audrey Tang lernen, der Ministerin, die damit angefangen hat, die Nutzung von Technologie zur Stärkung der Bürger Taiwans einzuführen. Das sollte der Weg der Zukunft sein, und nicht Xis Überwachungsstaat in einem Gross-Ostasien.
Viertens offenbarte Covid-19 ein schweres Versagen der Gesundheitsbürokratie in den USA und einigen anderen Ländern. Der amerikanische Epidemiologe Larry Brilliant, eine zentrale Figur in der Kampagne zur Ausrottung der Pocken, hat jahrelang erklärt, die Formel für den Umgang mit einer Infektionskrankheit sei «frühe Erkennung, frühe Reaktion». In Washington und London konnte man genau das Gegenteil beobachten.
Würde eine andere Art von Gefahr – etwa eine schwere Cyberattacke auf unsere kritische Infrastruktur – eine ebenso pomadige und ineffektive Reaktion hervorrufen? Falls die durch die Pandemie offengelegten Probleme nicht speziell für die Gesundheitsbürokratie gelten, sondern allgemein die staatliche Verwaltung betreffen, dann würde das wahrscheinlich so ablaufen. Wie gut käme Kalifornien mit «dem ganz grossen» Erdbeben am Andreas-Graben zurecht, ganz zu schweigen von den Bränden, die es entzünden würde? Mich schaudert bei dem Gedanken.
Von der Katastrophe zum Aufstand
Zuletzt gibt es eine die gesamte Geschichte durchziehende Tendenz, dass in Zeiten akuter gesellschaftlicher Belastung religiöse oder quasireligiöse ideologische Impulse gegen rationale Reaktionen erstarken. Wir alle hatten die Gefahr einer Pandemie vorher erwogen, doch eher als Unterhaltung (wie im Film «Contagion») denn als potenzielle Realität gesehen. Selbst jetzt, wo andere Science-Fiction-Szenarien Wirklichkeit werden – nicht nur steigende Temperaturen und Klimainstabilität, sondern auch der Aufstieg und die Expansion des chinesischen Polizeistaats, um nur zwei zu nennen –, fällt es uns schwer, angemessen und konsequent zu reagieren.
Covid-19 ist nicht die letzte Katastrophe, mit der wir in unserem Leben konfrontiert sein werden. Es ist lediglich die letzte nach einer Welle von islamistischem Terrorismus, einer globalen Finanzkrise, einer Abfolge von Staatsversagen, Wellen ungeregelter Migration und einem sogenannten Niedergang der Demokratie. Als Nächstes ist wahrscheinlich keine Katastrophe dran, die dem Klimawandel zuzuschreiben wäre, da wir selten die Katastrophe bekommen, die wir erwarten, sondern irgendeine andere Gefahr, die den meisten von uns entgeht.
Möglicherweise ist es ein Stamm Antiobiotika-resistenter Pesterreger, vielleicht aber auch eine massive russisch-chinesische Cyberattacke auf die USA und ihre Verbündeten. Es könnte auch ein Durchbruch bei der Nanotechnologie oder bei der Gentechnik sein, der katastrophale Folgen hat. Oder eine künstliche Intelligenz erfüllt Elon Musks Vorahnungen und reduziert eine intellektuell abgehängte Menschheit auf den Status «eines biologischen Startprogramms für eine digitale Superintelligenz».
Wir wissen einfach nicht, welche von all den möglichen künftigen Katastrophen zuschlagen wird und wann das geschieht. Wir können nichts weiter tun, als aus der Geschichte zu lernen, wie sich gesellschaftliche und politische Strukturen errichten lassen, die zumindest resilient und im besten Fall antifragil sind; wie der Abstieg in ein Chaos der Selbstgeisselung zu vermeiden ist, das so oft für Gesellschaften kennzeichnend ist, die von einer Katastrophe überwältigt werden, und wie wir den Sirenengesängen widerstehen können, die eine totalitäre Herrschaft oder eine globale Regierung als notwendige Voraussetzung vorschlagen, um unsere unglückselige Spezies und unsere verletzliche Welt zu retten.
Der Autor
Niall Ferguson ist Senior Fellow am Zentrum für europäische Studien in Harvard und forscht gegenwärtig als Milbank Family Senior Fellow an der Hoover Institution in Stanford, Kalifornien. Der obenstehende Essay wurde für Bloomberg Opinion verfasst – er erscheint hier exklusiv im deutschen Sprachraum. Wir danken Bloomberg für die Möglichkeit des Wiederabdrucks. – Aus dem Englischen übersetzt von Helmut Reuter.