Das neue Buch von Adriano Mannino „Wen rette ich – und wenn ja, wie viele? Über Triage und Verteilungsgerechtigkeit“ beschäftigt sich mit der Ethik in einer Triage-Situation, wie sie im Rahmen der COVID-19-Pandemie immer wieder droht bzw. zum Teil auch bereits durchgeführt werden musste. Siehe auch COVID-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.
Hier wieder einige Auszüge zum Reinschmöckern:
Ob militärisch oder zivil, das erste Gebot der Triage muss lauten: Vermeide es nach Kräften, triagieren zu müssen. Im Kontext einer Pandemie bedeutet dies: wirksame Prävention
Die zwei Dollar entsprechen demnach dem Warenkorb, den man in westlichen Ländern mit zwei Dollar erwerben kann. Wer jeden Tag von diesem Betrag leben muss, kann sich nicht gesund ernähren, hat kaum sanitäre Anlagen und kann sich keine gesundheitlichen Güter leisten. An den Folgen sterben stündlich über 700 Kinder. Die Summe, die westliche Staaten zur Linderung dieses unvorstellbaren Leids ausgeben, ist angesichts unseres Reichtums winzig.
Nach Schätzung vieler Ökonom*innen, NGOs und staatlicher Stellen würde ein jährlicher Betrag von weniger als 200 Milliarden US – Dollar ausreichen, die extreme Armut zu beenden. Dieser Betrag entspräche zusätzlichen 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Können wir es vor diesem Hintergrund verantworten, im Rahmen einer alltäglichen »Makro-Triage« uns selbst Ressourcen zuzuteilen, die wir gar nicht dringend benötigen und die anderswo viele Menschenleben retten würden?
Nach einem bis heute gängigen Triage-Prozedere werden die Patient*innen entsprechend in vier Prioritätsgruppen eingeteilt:
- Höchste Priorität kommt dabei jenen Patient*innen zu, die mit der Behandlung eine gute oder zumindest intakte Überlebenschance haben, ohne Behandlung jedoch fast sicher sterben werden.
- Zweitrangig behandelt werden Patient*innen, die auch ohne Behandlung eine relativ gute Überlebenswahrscheinlichkeit haben, die mit Behandlung aber noch deutlich verbessert werden kann.
- Zeitweilig nicht behandelt werden Patient*innen, die nur leichte Schäden aufweisen und auch ohne Behandlung eine gute Prognose haben,
- sowie Patient*innen, die auch mit Behandlung höchstwahrscheinlich sterben werden.
Dieses Verfahren soll sicherstellen, dass die medizinischen Ressourcen dort zum Einsatz kommen, wo sie am ehesten wirken werden, sodass die Anzahl der geretteten Leben maximiert wird. Relativ zu einem vierten möglichen Priorisierungskriterium, nämlich der Anzahl der geretteten Lebensjahre, ist jedoch auch das genannte Prozedere ineffizient. Haben beispielsweise eine 30-Jährige und eine 85-Jährige Patientin die gleiche kurzfristige Erfolgsprognose, teilt das Prozedere beide in dieselbe Prioritätsgruppe ein. Bei der 30-Jährigen können im Falle einer vollständigen Genesung aber noch 50 bis 60 Lebensjahre auf dem Spiel stehen, während der 85-Jährigen nur wenige Jahre oder Monate bleiben werden.
Ein fünftes Kriterium stellt die Systemrelevanz des jeweiligen Patienten dar: »Rettet die Retter!« Ist etwa das Leben einer Ärztin gefährdet, von deren Genesung bzw. Arbeit viele weitere Leben abhängen, erscheint ihre Priorisierung durchaus sinnvoll. Das Kriterium der Systemrelevanz ist also auch ein Effizienzkriterium: Die Rettung der Ärztin maximiert die Anzahl der insgesamt geretteten Leben (falls kein anderer Arzt für sie einspringen könnte, der an keiner anderen systemrelevanten Stelle fehlen würde, usw.). Zugleich kann die Priorisierung als Kompensation dafür verstanden werden, dass die Ärztin womöglich ihre Gesundheit riskiert, um andere zu retten. Personen, die unter hohem Risiko systemrelevante Arbeit leisten, könnten als Behandlungsgruppe allgemein priorisiert werden.
In der Transplantationsmedizin hat sich zur gerechten Verteilung der knappen Organe ein Punktesystem ausgebildet: Je mehr Punkte eine Patientin erreicht, desto höher ihr Platz auf der Warteliste. Die entsprechenden Kriterien sind transparent und werden gesetzlich geregelt, sind also auch demokratisch legitimiert. Ein Triage-Gesetz existiert dagegen nicht.
Was für den 75-Jährigen auf dem Spiel steht, ist nicht das Leben, sondern ein kleiner Teil des Lebens, nämlich (im statistischen Schnitt) die letzten rund zehn Jahre. Das ist viel und ethisch höchst bedeutsam.
Zugleich ist es viel weniger als das, was für den 40-Jährigen auf dem Spiel steht. Nimmt man diesen Unterschied ernst, muss er ethisch ins Gewicht fallen.
Wir unterstellen also lediglich, dass wir paarweise beurteilen können, welche von zwei Personen einen vergleichsweise größeren Schaden erleidet. Diese Vergleichbarkeit impliziert, wie erwähnt, nicht die Aufrechenbarkeit von Schäden über Personengrenzen hinweg.
Das Leben einer Person besteht, wie ausgeführt, in der Gesamtheit ihrer Lebensjahre und im Inhalt derselben, nicht bloß im (womöglich kleinen) Lebensteil, der ihr im konkreten Fall noch bevorsteht. Daher impliziert das Gebot der Personen- bzw. Lebenswertgleichheit
Unter der Voraussetzung, dass die oben entwickelten Argumente stichhaltig sind, könnte sich also die folgende Position ergeben: Ist eine wichtige medizinische Ressource knapp und unteilbar, sollte ein entsprechend den individuellen Stakes (also dem jeweiligen Ausmaß des Schadens) gewichtetes Los darüber entscheiden, wer die Ressource erhält.
Eine Person etwa, die nach einem Armbruch auf eine Behandlung wartet, sollte gegen eine Person mit leichten Kopfschmerzen keine Lotterie gewinnen müssen, selbst wenn die Gewinnchancen höchst ungleich verteilt würden. Vielmehr unterliegt die Person mit den Kopfschmerzen angesichts der hinreichend ungleichen Stakes in diesem Fall einer Solidaritätspflicht: Ihr ansonsten bestehender, gewichteter Anspruch auf die Ressource erlischt hier.
Das gewichtete Los scheint also nur dann angebracht, wenn das je auf dem Spiel stehende Schadensausmaß zwar unterschiedlich ist, der Unterschied sich aber in vernünftigen Grenzen hält.
Die bereits verstrichenen Lebensjahre gehören zwar genauso zur Person bzw. machen ihr Leben genauso aus, doch sie können ihr nicht mehr genommen werden und stehen daher nicht auf dem Spiel.
Doch selbst dann, wenn man den Ausschluss des Alterskriteriums für rechtlich eindeutig hält, bleibt die Frage, warum das Recht nicht angepasst werden sollte, wenn doch gewichtige ethische Gründe dafür sprechen. In manchen Fällen bestehen triftige, wiederum ethische Gründe dafür, die rechtlichen von den ethischen Normen abweichen zu lassen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine ethische Pflicht vergleichsweise unbedeutend ist, wenn uns die Pflicht übermäßig fordert oder wenn die Tiefe des staatlichen Eingriffs in persönliche Belange des Akteurs zu bedenklich wäre.
Was im Normalfall undenkbar ist, kann im Notfall geboten sein.
In der Ex-post-Situation hingegen sind alle Beatmungsgeräte bereits Patient*innen zugeteilt, während weitere Patient*innen eintreffen, welche die Geräte auch benötigen. Ex post triagiert würde demnach, wenn Patient*innen auch nachträglich depriorisiert und vom Beatmungsgerät getrennt werden können (entsprechend den Triage Kriterien, die ex ante gelten), damit höher.
Traumatisch ist ein Geschehen dann, wenn ein Mensch es als existenziell bedrohlich erlebt, es ihn völlig überfordert und derart verunsichert, dass er in seinen Grundfesten erschüttert zurückbleibt.
Denn eine lebensrettende Behandlung aktiv und gegen das gesundheitliche Interesse der betroffenen Personen abzubrechen, widerspreche dem Ethos des ärztlichen Berufs und könne vom medizinischen Personal nicht verlangt werden. Ärzt*innen müssten gegenüber den ihnen zugeteilten Patient*innen die Rolle parteiischer Anwält*innen einnehmen und sollten ex post daher nicht mehr triagieren. Dagegen lässt sich geltend machen, dass die Ex-post-Triage das Trauma-Risiko für die Triagierenden wohl nicht zusätzlich erhöht. Es ist im Gegenteil sogar plausibel, dass die Möglichkeit, auch ex post zu triagieren, das Trauma-Risiko reduziert. Denn ist die Ex-post-Triage ausgeschlossen, müssen unter Umständen viele junge Menschen sterben gelassen werden, weil Höchstbetagte bereits an den Beatmungsgeräten hängen. Ist das wirklich leichter zu ertragen? Vermutlich nicht, und dafür gibt es – wie wir gesehen haben – auch gute Gründe.
Im medizinischen Normalfall ist es angemessen, dass sich Ärzt*innen als parteiische Anwält*innen der ihnen anvertrauten Patient*innen begreifen. Im Knappheits- bzw. Konfliktfall aber ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, dass sie alle Patient*innen im Blick haben, die ihre gewichtigen Ansprüche bzw. Rechte geltend machen. Als Patientin kann ich so darauf vertrauen, dass ich auch von den Ärzt*innen der anderen Patient*innen voll berücksichtigt werde, wie es der Konfliktsituation angemessen ist.
Es wird als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, dass im Konfliktfall »laufend« zu triagieren ist (entsprechend wird die Ex-post-Triage auch als Verlaufs-Triage bezeichnet).
Ob ex ante oder ex post, das Trauma-Risiko lässt sich nicht mehr vermeiden, wenn der Massenandrang an Patient*innen da ist und die Ressourcen knapp werden.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Triage-Praktiken nicht nur die Ärzt*innen und ihr Ethos, sondern unsere rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft insgesamt traumatisieren, d. h. in ihren Grundfesten erschüttern und bleibend schädigen könnten.
Von 10.000 hospitalisierten Covid-19-Patient*innen in Deutschland waren fast 30 Prozent unter 60 Jahren.
Bei den Patient*innen, die auf Beatmung angewiesen waren, betrug der Anteil an unter 60-Jährigen rund ein Viertel. Die Todeswahrscheinlichkeit ist für 50-Jährige im Vergleich zu 60-Jährigen erneut um den Faktor zwei reduziert, jene für 40-Jährige um den Faktor fünf.
Inzwischen legen die Daten nahe, dass sich 10–15 % der symptomatischen Corona-Infizierten über längere Zeit nicht erholen.
Aus diesem Grund hätte eine vernünftige, vorausschauende Impfpolitik ab Frühjahr 2020 sofort dafür gesorgt, dass die Produktionskapazitäten für alle potenziell erfolgreichen Impfstofftypen massiv ausgebaut werden.
Denn die risikostrategische Maxime lautet hier: Wer die Nadel nicht findet, kaufe den Heuhaufen! Das hätte sich nämlich auch dann sehr gelohnt, wenn die Mehrzahl der potenziellen Impfstoffe gescheitert und nur eine kleine Gruppe zur Produktion gelangt wäre. Entsprechende Investitionen sind als Versicherungsprämien zu sehen, die uns gegen mögliche Engpässe in der Impfstoffproduktion absichern. Sie fallen so gut wie nicht ins Gewicht im Vergleich zu den Hunderttausenden Toten, den Millionen Langzeitgeschädigten und den Billionen an volkswirtschaftlichem Wert, die in Europa nun allein deshalb auf dem Spiel stehen, weil sich die Durchimpfung um Monate verzögert. Wir können uns während einer Pandemie das Risiko schlicht nicht leisten, nach der Zulassung von Impfstoffen auf die Produktionskapazitäten zu warten. Dies ist nun Realität geworden. Hätte man die Produktionskapazitäten zur Risikoabsicherung aggressiv und diversifiziert hochgefahren, wäre die gefährliche Problemlage vermieden worden, die im Winter 2020/21 eintrat. Jeder potenziell erfolgreiche Impfstoff hätte in einer Menge bestellt werden müssen, die für ganz Europa ausreicht – nur so wären wir abgesichert gewesen.
Die Covid-19-Impfstoffe liegen seit Langem vor. Die Blaupause für den mRNA-Impfstoff der Firma Moderna, der nach aktuellen Studienergebnissen eine Effektivität von fast 95 % aufweist (also 95 % der Geimpften vor der Krankheit schützt), lag bereits am 13. Januar 2020 vor – zwei Tage nach der Entschlüsselung des Genoms des neuen Coronavirus. Einen Monat später waren erste Chargen für die Phase-1-Erprobung produziert. Seither starben mehr als zwei Millionen Menschen an den Folgen einer Infektion, und es entstand ein enormer sozioökonomischer Schaden.
Dass ein Impfstoff während der gesamten brutalen Dauer [der Pandemie] zur Verfügung stand, mag für künftige Generationen, wenn sie Lehren aus unserem Tod und Leiden zu ziehen versuchen, das tragischste und ironischste Merkmal dieser Seuche sein.
Ab Februar 2020 hätten HCTs durchgeführt werden können, um die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe zu überprüfen – spätestens im Frühsommer wären die ersten Zulassungen erfolgt.
Lockdown-Maßnahmen kosten uns als Wirtschaft und Gesellschaft jede Woche Milliarden. Vor diesem Hintergrund werden gelegentlich Stimmen laut, die die Bewertung des Lebensschutzes kritisieren. Wenn Milliarden ausgegeben würden, um relativ wenige (meist hochbetagte) Personen zu retten, sei ein vernünftiges Verhältnis nicht mehr gegeben, monierte man etwa in der Schweiz.
Die Virologie und Epidemiologie können diese Frage höchstens zur Hälfte beantworten; für die andere Hälfte sind insbesondere die Wirtschaftswissenschaften zuständig. Im Idealfall sind Erkenntnisse aus beiden Bereichen zu einem interdisziplinären Beitrag zusammenzuführen, wie dies etwa im Rahmen einer Kollaboration zwischen dem IFO-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) geschehen ist.
Die gemeinsame Stellungnahme der Wissenschaftler*innen führt aus, dass bei möglichen Lockerungen »ökonomische mit gesundheitlichen Zielen bestmöglich in Einklang zu bringen« sind, und gelangt zu dem Ergebnis, »dass es in Bezug auf eine starke Lockerung der Maßnahmen keinen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Kosten gibt – aus beiden Blickwinkeln betrachtet ist eine zu starke Lockerung […] nicht wünschenswert.«
Wenn wir bereit sind, für ein zusätzliches Lebensjahr einer Mitbürgerin 100.000 Franken zu zahlen, warum fließt nicht viel mehr Geld in die Entwicklungsländer, wo derselbe Betrag 100.000/70 = ca. 1.400 Lebensjahre retten könnte?
Wann immer 100.000 Franken aufgewendet werden, ein Lebensjahr eines Mitbürgers zu retten, könnten anderswo 1.400 Lebensjahre gerettet werden. Man muss sich fragen: Ist diese Makro-Triage zulässig?
Mitbürger*innen – als Mitgliedern einer besonders engen Kooperationsgemeinschaft – mehr als den Bewohnern von Entwicklungsländern, auch wenn jedes Menschenleben an sich gleich zählt. Es scheint daher sowohl geboten, im harten Konfliktfall unsere Mitbürger*innen zu priorisieren, als auch die Entwicklungszusammenarbeit mit den Weltärmsten stark zu erhöhen.
Dabei bestünde das erste Gebot der Triage natürlich darin, ihre Notwendigkeit nach Kräften zu vermeiden – ob auf der Intensivstation während einer Pandemie, bei der Verteilung von Geldern in der Entwicklungszusammenarbeit oder im Kontext künftiger Krisen. Diesem Gebot können wir nur dann Genüge tun, wenn wir uns – gemeinsam – engagieren und Krisenlagen wirkungsvoll bekämpfen.
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