Das Buch „Zusammenhänge: Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen“ von Wolf Lotter liefert zahlreiche interessante Gedanken rund um das Thema vernetztes/systemisches Denken und Transformation zur Netzwerkgesellschaft (er verwende dafür häufiger das Wort Wissensgesellschaft, welches synonym zu sehen ist). Hier wieder einige Auszüge, die zum Weiterlesen animieren sollen.
»Um Wissen produktiv zu machen, müssen wir lernen, sowohl den Wald als auch den einzelnen Baum zu sehen. Wir müssen lernen, Zusammenhänge herzustellen. « PETER DRUCKER
Oder klug verfasst und nicht verstanden. Wir leiden unter Durchblicksmangel, uns fehlt der Zusammenhang. Dabei ist es doch die Fähigkeit, auf einer soliden Grundlage Entscheidungen zu treffen, die den selbstbestimmten Menschen ausmacht.
Kontextkompetenz heißt auch, falsche Fakten und die Grundmuster von Verschwörungstheorien zu erkennen.
»Wissen existiert dort, wo etwas erklärt oder verstanden werden kann.« Wissen ist eine Frage des Kontextes, des Zusammenhangs. »Ob Wissen nützen kann«, fährt Liessmann fort, »ist nie eine Frage des Wissens, sondern der Situation, in die man gerät.« Wissen ist Kontext, es strebt nach Beziehungen, Zusammenhänge machen die Welt aus.
Wissen heißt immer auch, anderes kennen und damit umgehen können.
Und wer weiß, ob das, was wir heute eher geringschätzig Soft Skills nennen, nicht morgen schon zum harten Kern des Nachgefragten gehört?
Aus diesem Grund empfehlen sich seit jeher Kultur- und Organisationstechniken, bei denen es um schnelle Anpassung und Vielfalt geht und nicht um die Abgrenzung des »Nützlichen« vom »Überflüssigen«, wie sie seit vielen Jahren vorgenommen wird.
Noch nie zuvor haben im reichen Westen so viele so viel gelernt und gleichsam so wenig gewusst – also verstanden. Wenn Wissen allein dort existiert, wo etwas »erklärt und verstanden werden kann«, steht es schlecht um uns. Wir reden uns dann nämlich unsere Bildung nur ein. Sie steht auf dem Papier, aber nicht aufrecht in der Welt.
Früher stifteten Herrscher und Parteien, Chefs und Manager einen Zusammenhang, den man nachbeten sollte. So wurde Komplexität reduziert.
Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere. Teilhabe, das meint nicht einfach, das, was da ist, neu zu verteilen, sondern es vielmehr so weiterzugeben, dass andere es nutzen – und nicht nur konsumieren können.
Die Beziehungen, die in neuen Netzwerken entstehen, sind selbst gewählt, sie unterliegen keiner Kausalität, bei der sich Ursache und Wirkung untrennbar und unausweichlich in eine Richtung ereignen muss. Das Denken in simplen Kausalitäten ist ein Kind des alten Reduktionismus, der die Möglichkeiten aus den Augen verloren hat. Mit der Welt des Eindeutigen kommt man aber der hohen Komplexität der Wissensgesellschaft nicht bei.
Ein Sowohl-als-auch anstelle eines Entweder-oder steht nicht für eine umfassende Relativierung.
Selbstgerechtigkeit ist der größte Feind der Selbstbestimmung. Und Identitäres ist das Gegenteil von Individuellem. In Diskussionen wird dies jedoch oft bewusst anders dargestellt.
Das sogenannte Ganze dient dem »Detail«, nicht umgekehrt.
Die neue Humanitas ist kein festes Regelwerk, nach dem man sein Leben abwickelt, sondern ein Raum der Möglichkeiten, der Entwicklung zulässt und »Durchblick« für so viele Menschen wie möglich.
Humanistische Bildung bedeutet, sich Wissen an und für sich anzueignen, um sich in dieser Welt zurechtzufinden.
Die Feinde der Freiheit geben sich von jeher gerne als Befreier der Menschheit aus.
Es geht um Klartext, also möglichst transparente, nachvollziehbare Sprache.
Zusammenhänge verstehen ist Entwicklungsarbeit, eine langsame und gründliche Tätigkeit.
Der Robinson Crusoe unserer Tage muss nicht alles können, er ist umgeben von Könnern, Seine Autonomie findet in Netzwerken statt.
Noch nie zuvor hing die Erlangung unserer Autonomie, unserer Selbstbestimmung, so sehr vom Austausch mit anderen ab.
Žižek macht das an der Sprach- und Ideenlosigkeit fest, die er in vielen Jahren vonseiten der sogenannten Antikapitalisten, insbesondere Aktivisten, erfahren hat. Sie wüssten zwar, was ihnen »am System« missfällt, aber selten, was sie praktisch an dessen Stelle rücken wollten. Offensichtlich, so Žižek, hätten sie ein diffuses Unbehagen, dem der nüchterne Zusammenhang fehle.
»Do not act« ist sein Rat, wenn man nicht vorher wisse, wozu das führt.
Wer weiß, wo es langgeht, muss erst mal wissen, wo er ist. Vielleicht fragen wir heute so viel nach Purpose, Sinn und Zweck, um uns die mühsame Arbeit, eigene Antworten zu finden, zu ersparen.
Eine nüchterne Analyse vor dem Handeln, so wie es Žižek vorschlägt, würde bedeuten, dass sich viele, die die Welt verändern wollen, erst einmal inhaltlich mit dem beschäftigen, was sie für falsch halten. Man muss die Regeln kennen, um sie zu brechen.
Kontextkompetenz bedeutet, im Detail zu denken und dabei den Überblick nicht zu verlieren.
Wissen zu wollen, was man wissen kann. Und manchmal auch zu entdecken, was man eigentlich schon weiß, Zusammenhang braucht Zusammenarbeit, kollaboratives Denken und Kooperation. Es geht gerade darum, etwas zusammenzubringen. Hier gilt es besonders kritisch und selbstkritisch zu sein.
Nur selten fällt uns auf, dass wir in Routinen und Denkschleifen hängen, die immer wieder zu denselben Problemen führen.
Zusammenhänge beschreiben die Welt nicht einheitlich, total oder »lückenlos«, vielmehr sind sie Orientierungshilfen in der jeweiligen Situation.
Lernen bedeutet hier keineswegs, einen Kanon einfach aufzunehmen, sondern das vorhandene Wissen in immer neuen Kombinationen selbst weiterzuentwickeln.
Menschen, die Zusammenhänge erkennen, werden als kreativ und intelligent bezeichnet. Für klug halten wir stets jene, die die Welt nicht nur so nehmen, wie sie ist, sondern etwas aus ihr machen – weil sie in der Lage sind, noch nicht erkannte Verbindungen zu sehen und möglicherweise auch anzuwenden.
Grundprinzips der Wissensgesellschaft: Mache Wissen zugänglich, damit neues Wissen entstehen kann, Erkenne die Verbindungen zwischen deinem Denken und dem der anderen und schaffe neue Möglichkeiten daraus. Das ist erschlossene Komplexität.
Es geht darum, dass wir Instrumente und Kulturtechniken ersinnen, die auf eine Erweiterung der Wahrnehmung und nicht auf deren Einschränkung ausgerichtet sind.
Die Industrialisierung hat ihre Wirksamkeit vor allen Dingen durch die Einführung und die stetige Optimierung von Routinen erlangt. Dadurch wurden wir durch die industrielle Revolution in die Lage versetzt, ungleich größere Quantitäten und Qualitäten als je zuvor für ungleich mehr Menschen zur Verfügung zu stellen. Möglich wurde das nicht nur durch den Einsatz von Maschinen und Routinen, sondern auch durch die Einführung eindeutiger Entscheidungsmodelle – Ja oder Nein ohne jede Schattierung – und eine durchgehende Arbeitsteiligkeit.
Es gibt gute Gründe, weshalb wir uns schwertun, von der alten Welt der Einheit und der Routinen in die neue der Vielfalt und Individualität zu kommen. Zum einen ist das eine Tempofrage, also ob sich die Veränderung schnell oder langsam vollzieht, lautstark oder eher hintergründig und ob gleichsam auch verstanden wird, was sich ändern soll und warum. Meistens ist es so, dass dort, wo ein direkter, nachvollziehbarer Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erkannt wurde, die Geschwindigkeit der Veränderung zweitrangig ist. Denken wir an eine alltägliche Situation: Auf der Autobahn hat sich ein Unfall ereignet, und die Autos, die hinter der Unfallstelle fahren, haben das erkannt, stoppen und schalten die Warnblinkanlage ein. Bis zur Sicherung der Unfallstelle wird wohl keiner der Menschen, die die Ursache für den nun entstehenden Stau erkennen, Unverständnis für die Lage aufbringen. Doch einige Meter dahinter, wo man, nur im Stau stehend, nicht weiß, warum, sieht es anders aus. Hier zieht sich jede Minute ins schier Unendliche.
Ähnlich geht es uns auch, wenn wir auf einen verspäteten Zug oder auf den Abflug unserer Maschine warten und niemand uns Informationen darüber gibt, wie es weitergeht.
Wo der Kontext fehlt, folgen Irritation und letztlich Ärger. Und Vertrauen geht verloren, Kontextkompetenz ist Kommunikationskompetenz. Natürlich: Wenn wir die Zusammenhänge kennen würden, wäre das Problem nicht automatisch auch gelöst, Aber wenn wir die Chance haben, Ursache und Wirkung selbst zu verstehen, den Zusammenhang zu erkennen, dann sind wir auch eher bereit, uns von der damit verbundenen Komplexität nicht lähmen zu lassen.
Der Umgang mit Mehrdeutigkeit (Ambivalenz) heißt, dass man die Welt nicht mehr »beherrscht«, sondern »versteht«. »Die Anderen« sind nicht »verrückt«, sie sind unsere Verhandlungspartner.
Wissbegier bedeutet, keine Angst vor Überraschungen und Neuem zu haben. Und dies ist ein Zeichen herausragender Intelligenz.
Neugierde wird kulturell geahndet, denn sie weicht von festen Vorgaben und Regeln ab. Die industrielle Gesellschaft lebt von der strikten Einhaltung dieses Plandenkens.
Unsere Vorstellung von der Welt und den Dingen, die in ihr existieren, und der Art und Weise, wie diese Dinge und Prozesse zusammenspielen, ist bis heute fast ausschließlich reduktionistisch gedacht. Alles, was man demzufolge für das Erkennen gesetzmäßiger Zusammenhänge braucht, sind ausreichend Daten, mit denen sich jedes Geheimnis, jedes Problem, jede Frage beantworten und zu einem Ganzen fügen lässt.
Reduktionismus ist natürlich nicht per se falsch, sondern nur dann, wenn man das Konzept nur halb verstanden hat. Wer einen Zusammenhang erkennen will, muss erst mal reduktionistisch denken, »zerlegen und analysieren«, wie es Edward Wilson sagt, um gleich ein ABER hinzuzufügen, das so bedeutsam ist, dass es hier großgeschrieben wird, damit man es nicht übersieht: »Ebenso entscheidend sind Synthese und Integration, in Schach gehalten von der philosophischen Reflexion über Wert und Bedeutung«, schiebt er nach.
Wer also nicht sowohl (im Detail und Fach) als auch (im Kontext) denkt, denkt gar nicht, forscht nicht, sondern denkt nur, er denkt.
Weglassen macht die Welt weder besser noch klarer, löst keine Probleme, wiegt uns aber in Scheinsicherheiten, solange wir keine besseren Lösungen an ihre Stelle rücken. Diese besseren Lösungen brauchen nie weniger, sondern stets mehr Komplexität.
Das ist nicht einfach zu denken. Es bedeutet nämlich, dass wir nicht durch Weglassen, sondern durch Hinzufügen – mindestens eines innovativen Gedankens – schlauer werden, also den ganzen Weg des aufgeklärten Denkens gehen.
Ambiguität bedeutet mehr- oder doppeldeutig, aber auch in seiner altgriechischen Wurzel »Zweifel« und im Sinne von Descartes »Der Zweifel ist der Weisheit Anfang«.
Die alten Zusammenhänge lösen sich auf, neue entstehen, auch weil wir sehen, dass die alten Zusammenhänge nicht mehr so reibungslos funktionieren, Wie bei jeder Veränderung dauert das lange, weil das Neue gegenüber dem Alten immer den Nachteil hat, sich erst »bewähren« zu müssen. Und dazu muss man erst mal eine Chance haben. Das Alte funktioniert nicht mehr so richtig, und das Neue ist noch nicht perfekt. Ungefähr das beschreibt unsere Lage.
Wir müssen großzügiger denken und gleichzeitig bescheidener werden. Perfektion war das Merkmal der Industriegesellschaft, der glatten, unbestechlichen Norm und Güte. Damit aber kommt man bei dynamischem Wissen und im wirklichen Leben nicht weiter.
Das alte industrialistische System suchte nach »Perfektion«, was deshalb denkbar war, weil die Entscheidungsoptionen überschaubar blieben.
Das Wort Perfektion bedeutet so viel wie Fehlerlosigkeit. Unfehlbarkeit sowie Vollkommenheit. Das ist ein weiterer wichtiger Hinweis über die Transformation von alten zu neuen Zusammenhängen. Perfektion ist autoritär, ausschließend, bestimmend. Perfektion ist eine zänkische Person, die mit allen Streit sucht und nur ihre eigene Wahrheit kennt, eine Lösung, ein Programm, Alternativlos.
Unser Hamsterrad ist aus verschiedenen Bauteilen gezimmert: Routine, Normalität, Sicherheit, Ordnung, Standard, Norm, Gewohnheit, Tradition. Es ist, was wir für richtig halten, und das ist in der Regel das, was wir immer wieder tun.
Wir definieren uns, das ist unübersehbar, durch Abgrenzung, durch Distanz, ganz gleich, ob wir uns eher als konservativ oder als liberal einstufen. Das ist, kurz gesagt, das Dilemma aller Identitätspolitik. Sie ist eine kulturelle Sackgasse, denn sie baut zwangsläufig auf Abgrenzung auf, und das führt zur Abschottung und zu Scheinzusammenhängen.
Der Ökonom Birger Priddat hat festgestellt, dass unter dem scheinbar zukunftsweisenden Begriff der »Nachhaltigkeit« oft nichts anderes steckt als eine Worthülse, die zur »Verteidigung bestehender Paradigmen verwendet wird. Was man heute schon weiß, soll auf unbestimmte Zeit verlängert werden.« Echte Nachhaltigkeit, nicht nur jene, die in der Ökologie relevant ist, würde aber stets bedeuten, dass man mutig jede Form von Innovation und Verbesserung in Angriff nimmt, statt sich der Illusion hinzugeben, man könne einen Sinn und Zusammenhang – oder auch eine bestimmte technische Gegebenheit – auf lange Sicht etablieren oder dogmatisch festsetzen. Das genau geschieht aber. Die Kritiker sind sich nicht bewusst genug, dass sie die Fehler, die sie bei anderen anprangern, selbst begehen – und damit den Grundstein für ihr eigenes Versagen legen.
Cargo-Kult: Der Cargo-Kult hat seine Wurzeln in den für die Eingeborenen Milanesiens unerklärlichen Segnungen der materiellen Mitbringsel, mit denen die europäischen Kolonialisten im 19. Jahrhundert zu ihnen kamen. Herrliche Dinge, aber auch unbekannte und unbegreifliche Gegenstände kamen aus den Cargo-Boxen der Fremden auf sie zu. Im Zweiten Weltkrieg überschwemmten die Amerikaner die Pazifikregionen mit Frachtgut, um den Krieg gegen den japanischen Aggressor zu gewinnen. Alles Gute kam aus den Frachtboxen, den Cargos, die sich in den Bäuchen von Transportflugzeugen stapelte. Als der Krieg gewonnen und vorbei war, blieben die Lieferungen aus, und die Melanesier begannen sich zu fragen, was sie falsch machen würden. Sie begannen damit, die Routinen, die Muster der Soldaten und des Flugpersonals zu imitieren, so, wie sie ihnen im Gedächtnis geblieben waren. Damit hofften sie, die Götter gnädig zu stimmen, und die Götter waren jene GIs, die die materiellen Segnungen des Westens in ihre Zonen gebracht hatten – und nun, aus Sicht der Eingeborenen möglicherweise deshalb ausblieben, weil das Ritual der Landung auf den Flugplätzen ausgefallen war. Ihr Zusammenhang war: Flugzeuge landen auf beleuchteten Pisten, und Cargo-Boxen mit tollen Dingen werden geöffnet. Auch hier gilt, dass man, bevor man derlei belächelt, nachdenken sollte, wie oft wir ähnliche Kulte auch in unserer Kultur ausüben.
Früh hat der weitsichtige Feynman damit erkannt, worin das Problem entwickelter Arbeitsteiligkeit besteht: Sie übersieht, in welchem Kontext, in welchem Zusammenhang – besser: Zusammenhängen – sie agiert und arbeitet.
Dieses »Zusammengehören« bedeutet, zu verstehen, was man tut, und nicht nur, wie. Die Welt ist voller fleißiger Fachidioten, die ihrem Cargo-Kult huldigen, Menschen, die routiniert und nach einem festen Muster arbeiten, leben und denken, welches sie für die Wahrheit – und die Realität – halten. Auch das ist eine Art Komplexitätsbewältigung: sich so tief einzugraben, dass man von der Oberfläche nichts mehr sieht und hört.
Paradigma und Realität passen nicht mehr zueinander. Besonders gefährdet von dieser Sichtweise wären, so hat Richard Feynman es erkannt, in den Wissenschaften vor allen Dingen die, die mit »fertigem Wissen« hantieren: Pädagogen und Didaktiker, also jene, die bereits bekanntes Wissen verbreiten – und damit eine Art Priester des bestehenden Paradigmas sind. Sie huldigen im Großen und Ganzen dem Kult des Bekannten. Nicht zufällig finden sich unter Lehrern und Geistlichen erstaunlich viele konservative Naturen, was nicht sehr überrascht, wenn man sich ihr Geschäft anschaut: das Bewahren und Verbreiten bekannter Zusammenhänge. Echte Lehrer hingegen würden handeln wie Meister, die künftige Meister ausbilden – das heißt, den Schülern jene Eigenheiten und den unverzichtbaren Individualismus zugestehen, der Menschen und ihre Arbeit ausmacht. Meisterhaftes Lehren bedeutet, im bekannten Wort Gustav Mahlers, das Feuer weiterzugeben, nicht die Asche. Das Bewahren des Bekannten ist immer eine kalte Angelegenheit.
Die wichtigste Aufgabe echter Wissenschaft wäre der Zweifel an bestehenden Zusammenhängen, die Fähigkeit, die eigenen Welterklärungsmodelle infrage zu stellen. Das ist wiederum genau das, was in Zeiten verschärfter Transformation immer seltener geschieht, weil man Angst hat, die sicheren Routinen zu verlassen. Derlei wird in bürokratischen Systemen ja auch bestraft, Bürokratien belohnen ihre Mitarbeiter, wenn sie bleiben, was sie sind, und dem Paradigma huldigen, auch wenn sie aus politischen Gründen die Sache immer wieder neu benennen müssen, Hauptsache, die Strukturen bleiben erhalten.
Positive Gesellschaftsentwürfe bauen also auf Verstehen, auf Verständnis auf und setzen eine Allgemeinbildung voraus.
Vernetzen heißt nicht: fest verknoten, sondern je nach Bedarf lose verbinden. Denn so viele Fragen es gibt, so viele Lösungen existieren auch.
Für jedes Verbot eine bessere Lösung. Eine, die nicht nur vordergründig gut aussieht, sondern auch den Systemcheck aushält. Hilft sie uns nicht bloß beim Wohlfühlen, sondern ist auch insgesamt gut?
Ich fahre, wann ich will. Das ist Teil einer erheblichen Qualität in der Bewegung. Er passt auch gut zu einer Lebens- und Arbeitswelt, in der Projekte und Netzwerke – und nicht mehr lebenslang feste Schichtzeiten – die Zeitabläufe bestimmen.
Wäre die Automobilindustrie nicht so selbstbezogen, wie sie nun mal ist, hätte sie hervorragende Karten für die neuen Zeiten. Sie würde an jenen intermodalen Systemen arbeiten, bei denen es gleichgültig ist, welches Verkehrsmittel wann und zu welcher Zeit genommen wird, Hauptsache, man bewegt sich komfortabel und ohne spürbaren Übergang so, wie man will, Individualverkehr braucht nicht zwingend eine Dominanz von Pkws, keine Individualfahrzeuge. Was im Fokus bleiben muss, ist die Fähigkeit, die Autonomiebedürfnisse der Menschen zu verstehen und anzuerkennen. Autonomes Fahren braucht autonome Fahrer, beides lässt sich nicht trennen. Dies vor Augen, unübersehbar, scheint es nun die einzige Lösung für die Automobilindustrie zu sein, anstelle von Autos mit Verbrennungsmotor eben welche mit E-Motoren zu bauen. Die allermeisten Kritikpunkte an Autos werden aber durch die E-Mobilität nicht aus der Welt geschafft.
Die Menschen wollen nicht Flugzeug fliegen, Bahn fahren oder auf der Autobahn stehen, sondern bequem, sicher und komfortabel von A nach B kommen. Mobilität ist ein Service, und Service ist ein individuelles Angebot, das Freiräume schafft und klare Bedürfnisse erfüllt.
In einer offenen Gesellschaft will sich jeder frei bewegen.
Techniker neigen zu einer pragmatischen Welteinteilung in Plus und Minus – sie gleichen darin ihrem ewigen Widerpart, den Ideologen. Allerdings ist ihre Polarisierung ja darauf ausgerichtet, das Dogma von der Lösbarkeit aller Probleme am Leben zu erhalten.
Sollten die Netzwerke zusammenbrechen, sind wir wieder in der vorindustriellen Zeit angelangt – nur ohne jede Vorbereitung, ohne Netz und ohne Expertise.
Das Problem ist nur: Wenn etwas »allgegenwärtig« ist, dann wird es unsichtbar. Damit verschwinden auch der alte Kontext und Zusammenhang zwischen Mensch und Maschine. Wir verwechseln die Automatenwelt zusehends mit der Menschenwelt. Wer nicht unterscheiden kann, kann nicht erkennen.
Komplexe Systeme sieht man nicht, man kann sie nicht fühlen oder haptisch be-greifen. Man muss ihren Sinn und Zweck kennen. Das ist so wichtig, dass man es sich immer wieder vergegenwärtigen muss, wenn man über Zusammenhänge als Ergebnis des Verstehens redet. Aber um zu begreifen, was man nicht anfassen und sehen, hören oder riechen kann, muss man die Logik des Verborgenen kennenlernen. Abstraktionsverständnis in diesem Sinne, wo es also um das Verstehen von Blackboxes geht, ist eine wesentliche Bildungsaufgabe der Kontextkompetenz.
Kontextkompetenz in Ökonomie bedeutet nicht, ein erfolgreicher Kaufmann oder gewiefter Spekulant zu sein. Kontextkompetenz in Ökonomie ist das Bewusstmachen der eigenen ökonomischen Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit. Es bedeutet, seine materiellen Grundlagen zu kennen. Und die der Welt, in der wir leben. Sie gilt es von der zu unterscheiden, die längst nur mehr in unseren Köpfen existiert. Ein fernes Echo führt uns in die Irre.
Die in zahllosen Verklärungen bis heute als Wiege der Vielfalt verstandene Antike war eben auch dies, ökonomisch nicht lernfähig, unkreativ und starrsinnig. Die Welt, einmal ergründet, bleibt, wie sie ist.
In einem entwickelten Sozialstaat gibt es viele Alimentierte, Leute, die von öffentlichen Geldern abhängig sind, längst nicht nur öffentlich Bedienstete und Beamte, sondern auch Konzerne und Unternehmen, die ihre ganz legalen Deals mit der Politik und der Bürokratie haben. Öffentliche Aufträge sind der Tropf, an dem große Unternehmen und Berater hängen. Konzerne, die nach außen hin mehr Marktwirtschaft fordern, kassieren gleichsam staatliche Subventionen – meist für die Schaffung von Arbeitsplätzen oder deren Erhalt. Überhaupt: Es geht in solchen Organisationskulturen mehr um Erhalt als um Innovationsfähigkeit, Joseph A. Schumpeter, der große Kenner des Kapitalismus und seiner vermeintlichen Alternativen, hat das vor über 70 Jahren hellsichtig kommen sehen: Die Erfolge der Kapitalismen, die Wohlstand schaffen, erzeugen immer mehr Leute, die mit ihm nichts zu tun haben wollen oder auch nichts von seinen historischen Verdiensten wissen, wohl aber immer mehr Ressourcen für sich selbst fordern, die nun mal nur mit den Mitteln der Marktwirtschaft erzielt werden können.
Die Revolution frisst ihre Kinder, weil die das so verlangen.
Man kann an Märkten teilnehmen, sie sogar gestalten, aber nicht im Sinne von »steuern« und »kontrollieren«. Dazu ist die Komplexität und Dynamik des Ganzen zu groß. Das muss man aushalten, ebenso wie die unausbleibliche Mehrdeutigkeit der eigenen ökonomischen Lage.
Deutschlands Sozialbudget wächst rasant an, liegt bereits bei 996 Milliarden Euro pro Jahr (1991 lag der Wert bei 393,5 Mrd. Euro). Die Behauptung, es stehe immer schlechter um den deutschen Sozialstaat, ist falsch. Es steht aber möglicherweise schlecht um seine organisatorischen Kompetenzen, um die Fähigkeit, die hohen Geldmittel auch dort hinzubringen, wo sie gebraucht werden.
Materialismus ist nicht alles, klar. Aber er liefert die Voraussetzungen dafür, dass man seinen eigenen Weg gehen kann. Wer ständig um die Existenz kämpft, kann das nicht.
Die Ökonomie ist, wie die Technologie und die ihr zugrunde liegende Naturwissenschaft, das große Feindbild der alten Zusammenhänge, der alten Gemeinschaften, der Unterkomplexen. In der Sozialwissenschaft nennt man das ein ECC – ein »Essentially Contested Concept«, ein Begriff, um dessen Sinn und Bedeutung gestritten wird. Dazu gehören heute auch Schlagwörter aus der Technologie, wie etwa »Digitalisierung« und »künstliche Intelligenz«. Sie alle haben etwas Schemenhaftes, Unklares, Vages. Das ist eine Einladung an Interpreten aus Politik, Medien und anderen Interessenten, sich ihrer nach Belieben zu bedienen. So wurde »der Kapitalismus« zu einem der bedeutendsten ECCs aller Zeiten.
Die im Jahr 2000 von Melinda und Bill Gates gegründete und geführte Stiftung ist die erfolgreichste Initiative weltweit gegen tödliche Kinderkrankheiten wie Polio und Durchfallerkrankungen, die aufgrund schlechter sanitärer Bedingungen entstehen. Das Ehepaar Gates ist an die Lösung dieser Probleme mit dem Geist des Kapitalismus herangetreten, mit nüchternem Verstand: »Wenn man eine Krankheit ausrottet«, sagt Gates an einer Stelle, »entstehen keine Folgekosten.«
Was die meisten Leute »am System« kritisieren, ist, wenn es nur Wachstum um des Wachstums willen generiert. Wenn es nur optimiert, um zu sparen, aber nicht, um das Ersparte dann sinnvoll zu investieren. Effizienz macht die Dinge richtig, Effektivität führt zu den richtigen Dingen. Genau das ist der Sinn alles Unternehmerischen, der ökonomische Zusammenhang: Es geht um Wirkung, um das Ergebnis.
Wer glaubt, dass beispielsweise das in den alten Zeiten als einzige Wärmequelle nutzbare Holzfeuer besonders ökologisch ist (weil es ja aus der »guten alten Zeit« kommt, in der es vermeintlich noch keine Umweltverschmutzung gab), hat einfach zu wenig Bildung, um es besser zu wissen. Ganz gleich, ob das Kaminfeuer in der Vorstadtvilla brennt oder im Alternativladen. So wird heute beispielsweise der größte Faktor für gesundheitsgefährdenden Feinstaub aus den heute allgemein der ökologischen Korrektheit zugeschriebenen Holzöfen gezogen, die sich im Westen großer Beliebtheit erfreuen. Da Holz als nachwachsender Rohstoff gilt, wähnt man sich auf der CO2 – sicheren Seite. Falsch, Feuer aus Holz, Kohle und andere offenen Flammen sind die größten Umweltkiller auf diesem Planeten: mindestens 3,5 Millionen Menschen sterben pro Jahr daran. Unbildung ist keine Banalität, Menschen sterben daran. Meist andere.
Ganz so, wie Schumpeter feststellt, dass der Kapitalismus die Leute erst wohlständiger, dann leichtsinniger der Quelle ihres Wohlstands gegenüber macht, ist es auch mit den Kapitalisten selbst.
Postmaterielle Überheblichkeit ist nichts weiter als das neue Sollen sie doch Kuchen essen.
Zahlenfetischismus. Er wird vor allem von jenen Teilen der reduktionistischen, auf mechanistische Prozesse fixierten Betriebswirtschaft betrieben, die vielfach die Grundlage des Managements von Unternehmen bilden.
Aber weil die Betriebswirte glauben, sie könnten »mit Zahlen umgehen«, ganz gleich, in welchem Kontext diese stehen, ziehen sie falsche Schlüsse. Damit werde, so Perry, der »Zahlenmüll produziert, den man für ›die Wahrheit‹ hält«. Man müsse aufhören, Zahlen und Daten »blind« zu vertrauen, und man müsse beginnen, »sie in ihrem Kontext zu verstehen, ihre Qualität, ihren Zusammenhang zu erschließen«. Ein – und dieselbe Statistik ist dann durchaus mehrdeutig, je nachdem, in welchem Kontext man sie sieht.
Geld allein macht nicht glücklich, dazu ist es nicht da, aber materieller Erfolg braucht die Frage nach dem Zweck, dem Sinn des Ganzen, wenn er über die Existenzsicherung hinausgeht.
Die Wissenschaften müssen sich nach dem Kategorisieren und Differenzieren endlich wieder der Neugierde und dem Fragen zuwenden. Die Netzwerke, in denen wir leben und arbeiten, bedürfen einer Beziehungswirtschaft, die darin besteht, dass man fragt, was andere brauchen, was ihnen guttut, wie sie Probleme lösen. Es geht darum, ehrlich die Bedürfnisse der anderen zu erkennen – und ihnen nicht etwas anzudrehen, das sie weder brauchen noch mögen werden. Es geht darum, Probleme zu lösen, und dazu muss man Menschen mögen, das heißt, ihnen zuhören, sie ernst nehmen und auch bereit sein, sich mit ihnen nach vorne zu streiten. Das ist weder bei den meisten Konzernen noch bei den meisten Konzerngegnern der Fall. Sie leben von Marketing und falschen Versprechungen, Beziehungswirtschaft tauscht sich aus, sie spricht miteinander, und sie fragt nicht primär nach Standardisierung. Das Wort Optimierung hat dort nur jenen Platz, den ihm Bill Gates gegeben hat: Wo Probleme bestehen, versuchen wir sie so gut, so gründlich, so persönlich wie möglich zu lösen. Diese Wirtschaft fordert nicht zum endlosen Konsum auf, sondern zur persönlichen Befriedigung der Bedürfnisse. Wir wollen nicht mehr, was alle haben, sondern was wir wirklich wollen.
Organisation ist die Kunst, aus Widersprüchen und Komplexität Zusammenhänge herzustellen. Gute Organisation sorgt also dafür, dass jeder »sein Ding« optimal machen kann und das Ganze davon profitiert. Dabei geht es nicht darum, alle auf »ein Motiv« oder »eine Zweckmäßigkeit« einzuschwören, sondern die unterschiedlichen Interessen und Tätigkeiten von Abteilungen, Individuen, Gruppen und Teams zu orchestrieren – und nicht etwa, wie in alten Zusammenhängen, zu einem Ganzen zu verbinden, um dies dann so dauerhaft wie möglich zu verankern.
Klarheit und Transparenz der eigenen Interessen machen sie berechenbar und anschlussfähig. Wer das Inkompatible kompatibel machen will, braucht Selbst- und Sendungsbewusstsein, Dialogfähigkeit ebenso wie Kontur und Persönlichkeit.
Die Organisation soll sowohl Werkzeug zur Erfüllung der Interessen des Ganzen wie auch ihrer einzelnen Teile sein. Im Idealfall gibt es also einen permanenten Ausgleich der Interessen – was man nun nicht mit Vereinheitlichung verwechseln darf. Es bekommt nicht jeder ein bisschen recht, sondern es herrscht in den Organisationen auch ein Wettbewerb über die jeweils richtigen Wege.
In dieser Definition von Götz Schmidt und Christian Konz bedeutet Agilität, dass die neue Netzwerkorganisation in immer neuen Anläufen – nach dem Prinzip Versuch und Irrtum – vorankommt.
Es herrscht das »organisatorische Subsidiaritätsprinzip«.
»Strukturelle Probleme sind grundsätzlich von der kleinsten organisatorischen Einheit oder der untersten Ebene der Organisationsform zu lösen beziehungsweise zu regeln. Die jeweils größere Einheit oder Ebene wird nur dann aktiv, wenn die kleinere Einheit dazu nicht in der Lage ist. Ihr Eingriff erfolgt subsidiär, d. h., größere Einheiten wirken unterstützend – sie leisten Hilfe zur Selbsthilfe,«
Damit Netzwerke funktionieren, darf man sie nicht einfach »laufen lassen«. Auch sie brauchen Regeln, allerdings technischer und organisatorischer Natur.
Führung hat den Job, in den jeweiligen Netzwerken und Organisationen dafür zu sorgen, dass die Herstellung dieser Zusammenhänge ermöglicht wird, aber es sind nicht mehr jene, die sich eine schöne Geschichte ausdenken und dann verbreiten.
Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft. Ein Bauer produzierte im Jahr 1900 »so viele Lebensmittel, dass er etwa vier Personen ernähren konnte« 94, während es im Jahr 2017 nach Berechnungen des »Rheinischen Landwirtschafts – Verbandes« (RLV) 155 Personen waren, die ein Landwirt versorgen konnte.
Reines Effizienzdenken ist Silo-Denken, mehr vom Gleichen also, Effektivität hingegen setzt auf qualitatives Wachstum. In der Doktrin der Industriegesellschaft sind Effizienz und Effektivität nicht versöhnbar. Richtig gedacht aber sind beide Welten nur verzahnt sinnvoll.
Organisationen, die sich nicht deutlich machen, die keinen Sinn und Zweck klar über die Optimierung ihres Status quo hinaus anbieten, verlieren ihre Talente.
Auch die hierarchiearme Organisation braucht Regeln, einen Kontext – jenen wortwörtlichen Webrahmen also, in dem unterschiedliche Interessen miteinander zu einem tragfähigen Stoff gemacht werden können.
Man muss in seiner Sache sehr gut sein, unverwechselbar, und gleichsam neugierig auf andere und anderes. So kann man Komplexität begegnen.
Unverständnis und Unsicherheit bei den Beherrschten sind wichtige, wenn nicht sogar die wichtigsten Instrumente aller Herrschaft.
Es geht um Kommunikation, um Austausch, um gegenseitiges Verstehenwollen als Voraussetzung für das Verstehenkönnen.
Eine gemeinsame Sprache ist erst mal nur eine Möglichkeit, technische Missverständnisse zu reduzieren. Die Komplexität unterschiedlicher Kulturen und Menschen lässt sich damit aber nur sehr bedingt abbilden. Vielleicht hieße das aber auch, den Sinn von Sprache misszuverstehen. Sprache dient uns dazu, uns auszutauschen, man könnte auch sagen: zu verhandeln. Das meint, dass wir unsere eigenen Standpunkte deutlich, zugänglich und nachvollziehbar machen. Das stößt in einer Welt, die sich in Normen verliebt hat, auf Probleme.
Komplexe Gesellschaften und ihre Akteure müssen miteinander reden und verhandeln. Die heutige tiefe Sehnsucht nach Eindeutigkeit ist eine nach einer konstruierten Geschichte, die es nie gab.
Wer vernetzt denkt, tauscht Wissen, handelt sozial, ohne seine Interessen zu verleugnen.
Wir sagen soziale und meinen materielle Gleichheit. Aber wir wissen nicht, wohin uns dieses Projekt führt, wenn die Verteilung der Ressourcen einen Punkt erreicht hat, an dem das Materielle nicht mehr das alles Entscheidende ist. Wir haben keine Antworten für die Fragen einer postmateriellen Welt, die über die Moral hinausgingen, Moral hilft uns aber nicht weiter, weil sie stets polarisiert und überdies auch noch höchst unzuverlässig ist: Was uns heute als gut und richtig erscheint, mag in der nächsten Saison schon überholt sein. Moral vernebelt die eigentliche Frage: Wie verbindet man unterschiedliche soziale und materielle, postmaterielle und persönliche Bedürfnisse so, dass sie einander nicht feindlich gegenüberstehen – wie sie es in der gegenwärtigen Diskussion im Westen ohne Zweifel tun? Konservative wie Linke geben darauf keine Antwort, erst recht nicht die äußerste Rechte. Der politische Zusammenhang der neuen Zeit kann also nur in einer radikalen Mitte entstehen, die sich von den reaktionären Rändern beider Extreme unabhängig macht.
Humanismus bedeutet aber eben Selberdenken, womit wir wieder bei seiner Kerntugend wären: der eigenen Entscheidung. Es ist nicht nachvollziehbar, warum man in Schulen und selbst noch an Universitäten und in der Ausbildung gerade darauf so wenig Wert legt. Die Fähigkeit zur Entscheidung wird vorausgesetzt, aber nicht gelehrt, so wenig übrigens auch wie der Umstand, dass man einmal getroffene Entscheidungen auch revidieren kann.
In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Anzahl der Absolventen von Hochschulen und Universitäten unaufhörlich. Doch es ist längst offensichtlich, dass dabei vor allen Dinge mehr vom Gleichen »hergestellt« wird. Bildung ist meist nach wie vor nicht Entwicklungsarbeit, sondern Dressur. Von Originalität, Individualität und, ein großes Wort in der akademischen Landschaft, Exzellenz wird umso mehr geredet, je weniger all diese in Erscheinung treten.
Die Wissensgesellschaft, die man braucht, ist eine andere. Sie stellt keine Fachkräfte her, sondern bildet die Voraussetzung dafür, dass sich Könner und Meister entwickeln. Sie bestimmt nicht, sie ermöglicht.
Fokus ist wichtig – aber die Wissensgesellschaft braucht Leute, die auch wieder auf Weitwinkel umschalten können, Meisterschaft stellt scharf, wo es nötig ist.
Ein Könner hingegen weiß, was sich mit der Maschine anstellen lässt, welche möglichen Konsequenzen sich aus deren Einsatz ergeben und welche Alternativen sich dazu denken lassen. Sein Fachwissen ist dabei nur die Plattform für seine Kreativität und seine Fähigkeit, Probleme zu lösen, die eingebettet sind in die Kontextkompetenz.
Könner nutzen Maschinen, Digitalisierung und Organisationen als Werkzeuge.
Gerade tief greifende Krisen wie die des Finanzsystems, mehr noch der Disruption in der Folge der Corona-Pandemie, werden die Meisterschaft und das Können bald in den Mittelpunkt unseres Interesses rücken. Wir werden uns aufs Wesentliche konzentrieren, auf unsere einzigartigen Fähigkeiten.
Wir haben im Westen alle gelernt, die Dinge nach dem Muster Entweder-oder zu behandeln. Wenn wir etwas Neues sehen, wird es sofort in eine Schublade gesteckt. Wir durchdenken unsere Probleme nicht, wir legen sie nach Mustern ab. Und dann schlagen wir uns auf die eine oder andere Seite. Entweder oder. Es fehlt uns offensichtlich der Abstand, Dinge und Sachverhalte nicht sofort zu klassifizieren, sondern darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten sie außer den vorausgesetzten noch bieten könnten, Jullien weist uns darauf hin, dass komplexe Welten aber nur so zugänglich sind. Es geht nicht um Eindeutigkeit, um sofortiges Abhaken, um »Typologien«, sondern gerade darum, »über diese hinauszugehen«.
Denn tatsächlich sind die, die versuchen, völlig neue Zusammenhänge aufzuzeigen, Menschen, die wir später als Pioniere, Vordenker, Innovatoren und Genies bezeichnen, nichts weiter als jene »Verrückten«, die in der Lage sind, nicht aus dem Vorhandenen allein oder auch nur vorwiegend auf neue Sachverhalte zu schließen.
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