Quelle: www.diepresse.com
Der renommierte US-Wissenschaftler Jared Diamond zieht erste Erkenntnisse aus der Coronakrise: Er erklärt, weshalb Amerikaner Wissenschaftlern nicht trauen, die traditionelle chinesische Medizin Epidemien fördert und einige Nationen Krisen besser bewältigen als andere. Und warum Paranoia hilfreich ist.
Sie untersuchen in Ihrem neuesten Buch unter anderem, wie Nationen Krisen bewältigen müssten. Warum haben manche Staaten besser auf Covid-19 reagiert als andere?
China und die USA haben anfangs die Realität verleugnet, sich selbst falsch eingeschätzt. Hingegen gab es Länder, die die Lage gleich erkannten und von Beginn an richtig reagierten: Ein Beispiel ist Vietnam, ein Land wenig technologischen Know-how. Vietnam ist 2002/2003 hart von Sars getroffen worden und zog die Lehren aus der Krise von damals. Hanoi riegelte alles ab, Infizierte wurden in öffentlichen Einrichtungen untergebracht, ihre Familien in Quarantäne gesetzt. Noch interessanterer ist Finnland: Dieses Land bereitet sich ständig auf Katastrophen vor, Grund ist das Trauma des Winterkriegs gegen die Sowjetunion 1939. Ich habe einen Freund, der in einem finnischen Regierungskomitee arbeitet. Sie treffen einander monatlich, um sämtliche Katastrophenszenarien durchzudenken. Es gibt einen Plan für alles, auch für Pandemien. Finnland sammelt seit Jahren Schutzmasken – ebenso wie Treibstoff, Chemikalien, Medikamente, Nahrungsmittel. Es war also bestens auf die Coronapandemie vorbereitet.
Lähmt eine solche Paranoia – dieser Zustand der ständigen Angst – nicht Gesellschaften?
Ich nenne diesen Zustand „konstruktive Paranoia“. Er hat mich gerettet, als ich in Neuguinea geforscht habe: Dort gab es nichts, kein funktionierendes Transportsystem, keine Ärzte. In Neuguinea wurde ich paranoid: Ich habe dauernd daran gedacht, was alles schiefgehen könnte. Diese Einstellung bestimmte mein Planen und Handeln. Und ebendiese Paranoia ermöglichte mir, aktiv zu sein, effizient zu arbeiten. Sie half mir sehr als Individuum. Genauso hilft sie Staaten, Finnland ist ein Beweis.
Und Länder wie Italien, wo alles schiefgelaufen ist, sind nicht paranoid genug?
Italiener vertrauen ihren Regierungen nicht. Es ist daher gang und gäbe, Regeln zu brechen. Ich habe die vergangenen fünf Jahre in Rom unterrichtet. Und als ich einen Freund erstaunt fragte, warum Menschen auf Mopeds Schutzhelme tragen, so wie es das Gesetz vorsieht, antwortete er: „Weil der Helm vor Unfällen schütz.“ Steuern aber beschützten niemanden, deshalb zahle sie auch kaum einer. Die Italiener sind daheimgeblieben, als sie erkannten, dass Covid tötet. Und nicht, weil ihnen das ihre Regierung vorschrieb.
Wird diese Krise Einstellungen ändern, die sich seit Jahrtausenden halten?
Diese Frage müssen Sie in zwei Jahren stellen. Finnland ist seit dem Krieg mit der Sowjetunion konstruktiv paranoid, es schätzt sich und Gefahren, denen es ausgesetzt ist, ständig neu ein und plant danach. Vielleicht wird es Italien auch so ergehen, das stark geprägt ist von dieser schrecklichen Erfahrung im Kampf gegen Covid-19.
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