Das Buch Verborgene Zusammenhänge: Vernetzt denken und handeln – in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft von Fritjof Capra stammt bereits aus 2002.Dennoch liefert es wichtige Einsichten rund um das Thema „Umgang mit Komplexität“. Viele im Buch behandelte Beispiele lassen einem etwas ratlos zurück, wenn man bedenkt, dass die Erkenntnisse bereits fast 20 Jahre alt sind. Systeme sind doch robuster, als man gemeinhin annimmt. Aber wie bereits Ugo Bardi in Der Seneca-Effekt: Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können geschrieben hat, ist der Kollaps von komplexen Systemen kein Fehler, sondern ein Designprinzip. Hier einige Auszüge daraus Verborgene Zusammenhänge:
Diese Mathematik wird in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen oft «Komplexitätstheorie» oder «Komplexitätswissenschaft» genannt. Naturwissenschaftler und Mathematiker sprechen lieber von «nichtlinearer Dynamik», was auf ihr entscheidendes Merkmal verweist, die Tatsache, dass sie eine nichtlineare Mathematik ist.
Wenn wir die ungeheure Vielfalt lebender Organismen betrachten – Tiere, Pflanzen, Menschen, Mikroorganismen –, fällt uns sofort etwas Wichtiges ins Auge: Sie alle bestehen aus Zellen. Ohne Zellen gibt es kein Leben auf der Erde. Das mag nicht immer so gewesen sein, aber heutzutage können wir mit Sicherheit sagen, dass alles biologische Leben mit Zellen zusammenhängt.
Die Existenz von Membranen ist daher eine wesentliche Bedingung für zellulares Leben. Während Zellwände starre Strukturen sind, sind Membranen stets aktiv, sie öffnen und schließen sich ständig, halten gewisse Substanzen draußen und lassen andere herein.
Lebende Netzwerke erschaffen sich ständig (neu), indem sie ihre Komponenten umwandeln oder ersetzen.
Das Nervensystem eines Organismus verändert sein Verbundensein mit jeder Sinneswahrnehmung. Diese lebenden Systeme sind jedoch autonom. Die Umwelt löst nur die strukturellen Veränderungen aus – sie spezifiziert oder steuert sie nicht.
Das strukturelle Verbundensein, bewirkt, dass lebende und nichtlebende Systeme sich in der Art und Weise, wie sie mit ihrer Umwelt interagieren, klar voneinander unterscheiden. Wenn man beispielsweise gegen einen Stein tritt, wird er auf den Tritt aufgrund einer linearen Kette von Ursache und Wirkung reagieren. Sein Verhalten lässt sich berechnen, indem man die Grundgesetze der Newtonschen Mechanik anwendet. Wenn man einen Hund tritt, ist die Situation ganz anders. Der Hund wird mit strukturellen Veränderungen aufgrund seines Wesens und seines (nichtlinearen) Organisationsmusters reagieren. Das daraus resultierende Verhalten ist generell unvorhersagbar.
Da ein lebender Organismus auf Umwelteinflüsse mit strukturellen Veränderungen reagiert, werden diese Veränderungen wiederum sein künftiges Verhalten verändern. Mit anderen Worten: Ein strukturell verbundenes System ist ein Lernsystem. Ständige strukturelle Veränderungen als Reaktion auf die Umwelt – und demzufolge ein fortwährendes Anpassen, Lernen und Entwickeln – sind Schlüsselkriterien des Verhaltens aller Lebewesen. Aufgrund seines strukturellen Verbundenseins können wir das Verhalten eines Tieres intelligent nennen, aber wir würden diesen Begriff nicht auf das Verhalten eines Steins anwenden.
Alle Lebewesen haben eine Geschichte. Eine lebende Struktur ist stets eine Chronik ihrer früheren Entwicklung.
Ein lebendes System bewahrt sich die Freiheit zu entscheiden, was es bemerkt und was es stören wird.
Da die meisten Wissenschaftler es gewohnt sind, mit linearen Modellen zu arbeiten, zögern sie oft, das nichtlineare System der Komplexitätstheorie zu übernehmen, und haben Schwierigkeiten damit, sich der Implikationen der nichtlinearen Dynamik bewusst zu sein. Dies gilt insbesondere für das Phänomen der Emergenz.
Die Emergenz führt zur Schöpfung von Neuem, und dieses Neue unterscheidet sich oft qualitativ von den Phänomenen, aus denen es hervorging. Dies lässt sich leicht anhand eines bekannten Beispiels aus der Chemie veranschaulichen: der Struktur und den Eigenschaften von Zucker.
Wenn sich Kohlenstoff-, Sauerstoff- und Wasserstoffatome auf eine bestimmte Weise zu Zucker verbinden, weist die sich ergebende Verbindung einen süßen Geschmack auf. Die Süße liegt weder im C noch im O noch im H – sie liegt in dem Muster, das aus ihrer Interaktion hervorgeht. Sie ist eine emergente Eigenschaft. Außerdem ist die Süße, streng genommen, keine Eigenschaft der chemischen Bindungen. Sie ist eine Sinneserfahrung, die entsteht, wenn die Zuckermoleküle mit der Chemie unserer Geschmacksknospen interagieren, was wiederum eine Reihe von Neuronen veranlasst, bestimmte Impulse abzugeben. Das Erleben von Süße geht aus der neuronalen Tätigkeit hervor.
Diese Annahme stützt sich auf die Beobachtung, dass die Evolution sich seit Milliarden von Jahren vollzieht, indem sie die gleichen Muster immer wieder verwendet. Während sich das Leben entwickelt, neigen diese Muster dazu, zunehmend raffinierter zu werden, aber stets sind sie Variationen der gleichen Grundthemen.
Damit eine Maschine richtig läuft, muss sie von ihren Betreibern kontrolliert werden, so dass sie gemäß ihren Instruktionen funktioniert. Dementsprechend zielt die klassische Managementtheorie vor allem darauf ab, effiziente Betriebsabläufe durch hierarchische Kontrolle zu erreichen. Lebewesen hingegen handeln autonom. Sie lassen sich niemals wie Maschinen kontrollieren. Wer dies versucht und tut, nimmt ihnen ihre Lebendigkeit.
Ein Unternehmen als eine Maschine zu verstehen bedeutet auch, dass es schließlich zugrunde geht, wenn es nicht regelmäßig vom Management «gewartet» und erneuert wird. Es kann sich nicht selbst ändern – alle Veränderungen müssen von jemand anderem konzipiert werden. Versteht man das Unternehmen hingegen als Lebewesen, ist damit die Einsicht verbunden, dass es fähig ist, sich selbst zu regenerieren, und dass es sich auf natürliche Weise verändern und entwickeln wird. «Die Maschinenmetapher ist so einflussreich», erklärt Senge, «dass sie den Charakter der meisten Unternehmen prägt. Sie werden eher eine Art Maschine als ein Lebewesen, weil ihre Angehörigen sie so sehen.» Die mechanistische Managementmethode ist gewiss sehr erfolgreich, wenn es darum geht, Effizienz und Produktivität zu erhöhen, aber sie hat auch zu einer verbreiteten Animosität gegenüber Organisationen geführt, die wie eine Maschine gemanagt werden. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Die meisten Menschen lehnen es ab, nur als Rädchen im Getriebe behandelt zu werden.
Die Maschinenmetapher kennt keinen Spielraum für flexible Anpassungen, für Lernen und Entwicklung, und es ist klar, dass streng mechanistisch gemanagte Organisationen im heutigen komplexen, wissensorientierten und rapide sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld nicht überleben können.
De Geus gelangte zu der Schlussfolgerung, dass widerstandsfähige, langlebige Unternehmen das Verhalten und gewisse Eigenschaften von lebenden Wesen aufweisen. Im Prinzip stellte er zwei Sets von Eigenschaften fest. Zum einen gibt es da ein starkes Gemeinschaftsgefühl und eine kollektive Identität in Verbindung mit einer Reihe gemeinsamer Werte – in dieser Gemeinschaft wissen alle Mitglieder, dass sie bei ihren Bemühungen, ihre Ziele zu erreichen, Unterstützung finden. Das andere Set von Eigenschaften besteht aus Offenheit gegenüber der Außenwelt, Toleranz hinsichtlich der Aufnahme neuer Mitglieder und Ideen und folglich einer offenkundigen Fähigkeit, zu lernen und sich neuen Umständen anzupassen.
Um die Krise zu überwinden, so de Geus’ Vorschlag, müssen die Manager «ihre Prioritäten ändern und Unternehmen nicht zur Optimierung von Kapital, sondern zur Optimierung von Menschen managen».
Nach Arie de Geus ist ein starkes Gefühl unter den Mitarbeitern eines Unternehmens, dass sie der Organisation angehören und sich mit ihren Leistungen identifizieren – mit anderen Worten: ein starkes Gemeinschaftsgefühl –, wesentlich für das Überleben von Unternehmen im heutigen turbulenten wirtschaftlichen Umfeld.
Die formellen Strukturen werden in den offiziellen Dokumenten der Organisationen dargestellt – den Organigrammen, Satzungen, Anweisungen und Budgets, die die formalen politischen Richtlinien, Strategien und Verfahren der Organisation beschreiben. Die informellen Strukturen dagegen sind fließende und fluktuierende Kommunikationsnetzwerke. Diese Kommunikationen schließen nichtverbale Formen eines gegenseitigen Engagements in einem gemeinsamen Unternehmen ein, durch die Fähigkeiten ausgetauscht werden und ein gemeinsames stillschweigendes Wissen erzeugt wird. Die gemeinsame Praxis erzeugt flexible Sinngrenzen, die oft unausgesprochen sind. Die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk kann schlicht daran erkennbar sein, dass jemand bestimmten Unterhaltungen folgen kann oder den neuesten Klatsch kennt.
Die informellen Kommunikationsnetzwerke sind in den Menschen verkörpert, die sich in der gemeinsamen Praxis engagieren. Wenn neue Menschen hinzukommen, kann sich das gesamte Netzwerk neu konfigurieren – wenn Menschen es verlassen, wird das Netzwerk sich erneut verändern oder vielleicht sogar zusammenbrechen. In der formellen Organisation hingegen sind Funktionen und Machtverhältnisse wichtiger als die Menschen und bleiben über die Jahre hinweg bestehen, während die Menschen kommen und gehen.
Die Stärke dieses Zusammenspiels wird besonders offenkundig, wenn die Arbeiter in einem Unternehmen mit einem «Dienst nach Vorschrift» ihren Unmut demonstrieren.
Indem sie strikt nach den offiziellen Anweisungen und Verfahrensweisen handeln, beeinträchtigen sie ernsthaft das Funktionieren der Organisation. Im Idealfall werden die informellen Beziehungsnetzwerke von der formellen Organisation anerkannt und unterstützt, die ihre Innovationen auch in ihre formellen Strukturen einbindet.
Die Lebendigkeit einer Organisation – ihre Flexibilität, ihr kreatives Potenzial und ihre Lernfähigkeit – sitzt in ihren informellen Praxisgemeinschaften.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass sich das Kreativitäts- und Lernpotenzial einer Organisation am effektivsten erhöhen sowie dynamisch und lebendig erhalten lässt, wenn die Praxisgemeinschaften unterstützt und gestärkt werden. Der erste Schritt besteht dann darin, den sozialen Raum zu bieten, in dem informelle Kommunikationen gedeihen können.
Eine Maschine lässt sich steuern – ein lebendes System kann nur gestört werden.
Sinnvolle Störungen erregen die Aufmerksamkeit der Organisation und lösen strukturelle Veränderungen aus.
Sinnvolle Impulse zu geben, statt präzise Anweisungen zu erteilen – das mag sich für Manager, die sich um Effizienz und vorhersagbare Ergebnisse bemühen, viel zu vage anhören. Doch bekanntlich führen intelligente, wache Menschen nur selten Anweisungen buchstabengetreu aus.
Lebende Systeme entscheiden stets selbst, was wahrzunehmen und wie darauf zu reagieren ist. Wenn Menschen Anweisungen modifizieren, dann reagieren sie kreativ auf eine Störung, denn das ist ja das Wesen des Lebendigseins.
Wenn wir die Menschen von Anfang an in den Veränderungsprozess einbeziehen, werden sie sich «freiwillig stören lassen», da der Prozess für sie sinnvoll ist.
Wir müssten uns nicht auf die unmögliche und erschöpfende Aufgabe einlassen, ihnen die Lösung zu «verkaufen», sie dazu zu bringen, sich «zu melden», oder uns die Anreize auszudenken, die sie zu gefügigem Verhalten veranlassen könnten … Nach unserer Erfahrung kommt es bei der Umsetzung jedes Mal zu enormen Kämpfen, wenn wir Veränderungen der Organisation verkünden, statt herauszufinden versuchen, wie die Menschen einbezogen werden könnten, um sie herbeizuführen … [Andererseits] haben wir erlebt, dass sich die Umsetzung in dramatischem Tempo vollzieht, wenn die Menschen bei der Konzeption dieser Veränderungen hinzugezogen werden.
Die Aufgabe besteht somit darin, den Veränderungsprozess für die Menschen von Anfang an sinnvoll zu machen, sie für die Teilnahme zu gewinnen und ein Umfeld herzustellen, in dem sich ihre Kreativität entfalten kann.
Werden Impulse und Leitprinzipien statt strenger Anweisungen angeboten, läuft dies offenkundig auf erhebliche Veränderungen in den Machtverhältnissen hinaus – Beherrschung und Kontrolle werden durch Kooperation und Partnerschaften ersetzt. Auch dies ist eine fundamentale Auswirkung des neuen Verständnisses von Leben. In den letzten Jahren haben die Biologen und Ökologen damit begonnen, ihre Metaphorik von Hierarchien zu Netzwerken zu verlagern, und sie sind zu der Erkenntnis gelangt, dass Partnerschaft – die Neigung, sich zu verbinden, Verknüpfungen herzustellen, zu kooperieren und symbiotische Beziehungen zu unterhalten – eines der Kennzeichen von Leben ist.
«Für eine Organisation zu arbeiten, die sich auf das Erschaffen von Wissen konzentriert, ist wunderbar motivierend, und zwar nicht, weil die Organisation mehr Gewinn macht, sondern weil unser Leben für uns lebenswerter ist.»
Schlüsselmerkmal von Leben: spontane Entstehen von neuer Ordnung.
In einer menschlichen Organisation kann das den Prozess der Emergenz auslösende Ereignis eine beiläufige Bemerkung sein, die vielleicht nicht einmal für die Person, die sie gemacht hat, wichtig ist, aber für einige Menschen in einer Praxisgemeinschaft von Bedeutung ist. Weil sie für sie von Bedeutung ist, fühlen sie sich gestört und verbreiten die Information rasch durch die Netzwerke der Organisation. Während die Information durch verschiedene Rückkopplungsschleifen zirkuliert, kann sie verstärkt und erweitert werden, sogar so sehr, dass die Organisation sie in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht mehr verarbeiten kann. Wenn das geschieht, ist ein Punkt der Instabilität erreicht. Das System kann die neue Information nicht in seine bestehende Ordnung integrieren – es ist gezwungen, einige seiner Strukturen, Verhaltensweisen oder Überzeugungen aufzugeben. Das führt zu einem Zustand von Chaos, Verwirrung, Ungewissheit und Zweifel, und aus diesem chaotischen Zustand erwächst eine neue Form von Ordnung, die um eine neue Bedeutung herum organisiert ist. Die neue Ordnung wurde nicht von einem Einzelnen konzipiert, sondern entstand als ein Ergebnis der kollektiven Kreativität der Organisation.
Emergente Strukturen hingegen sorgen für Neuheit, Kreativität und Flexibilität. Sie sind anpassungsfähig, können sich verändern und entwickeln. In der heutigen Wirtschaftswelt besitzen rein geplante Strukturen nicht die nötige Reaktions- und Lernfähigkeit. Sie können Großartiges leisten, aber da sie nicht anpassungsfähig sind, versagen sie, wenn es um Lernen und Veränderung geht, und laufen somit Gefahr, über Bord geworfen zu werden.
Dabei geht es gar nicht darum, auf geplante Strukturen zugunsten von emergenten Strukturen zu verzichten. Wir brauchen beide. In jeder menschlichen Organisation gibt es eine Spannung zwischen ihren geplanten Strukturen, die Machtverhältnisse verkörpern, und ihren emergenten Strukturen, die für die Lebendigkeit und Kreativität der Organisation stehen.
Je mehr wir das Wesen des Lebens verstehen und uns bewusst werden, wie lebendig eine Organisation sein kann, desto schmerzlicher stellen wir fest, wie lebensfeindlich unser derzeitiges Wirtschaftssystem ist.
Dieser wirtschaftliche Druck wird mit Hilfe immer raffinierterer Informations- und Kommunikationstechnologien ausgeübt, die einen tiefen Konflikt zwischen der biologischen Zeit und der Computerzeit bewirken. Neues Wissen entsteht, wie wir gesehen haben, aus chaotischen Emergenzprozessen, die Zeit brauchen. Kreativ zu sein heißt, in der Lage zu sein, sich bei aller Ungewissheit und Verwirrung zu entspannen. In den meisten Unternehmen wird das immer schwieriger, weil sich die Dinge viel zu schnell bewegen. Die Menschen haben das Gefühl, kaum noch Zeit für stilles Nachdenken zu haben, und da das reflexive Bewusstsein eines der definierenden Merkmale der menschlichen Natur ist, sind die Auswirkungen zutiefst entmenschlichend.
Sobald die globalen Finanznetzwerke ein gewisses Komplexitätsniveau erreicht hatten, erzeugten ihre nichtlinearen Verknüpfungen rapide Rückkopplungsschleifen, die viele unvermutete emergente Phänomene hervorriefen. Die sich daraus ergebende neue Wirtschaft ist so komplex und turbulent, dass sie sich einer konventionellen wirtschaftlichen Analyse entzieht.
Die Informationsschaltkreise der globalen Wirtschaft operieren mit einer derartigen Geschwindigkeit und nutzen eine solche Vielzahl von Quellen, dass sie ständig auf einen Schauer von Informationen reagieren, und darum gerät das System als Ganzes außer Kontrolle.
Auch lebende Organismen und Ökosysteme können jederzeit instabil werden, aber sie werden in einem solchen Fall aufgrund der natürlichen Auslese schließlich verschwinden, und nur die Systeme, in die Stabilisierungsprozesse eingebaut sind, werden überleben.
Das zentrale Anliegen der gegenwärtigen Wirtschaftstheorie und -praxis – das Streben nach anhaltendem, undifferenziertem Wirtschaftswachstum – ist eindeutig umweltschädigend, da die unbegrenzte Expansion auf einem begrenzten Planeten nur in die Katastrophe führen kann. Ja, an der Wende dieses Jahrhunderts ist es mehr als klar geworden, dass unsere wirtschaftlichen Aktivitäten der Biosphäre und dem menschlichen Leben auf eine Weise schaden, die bald irreversibel sein wird.
In den USA legen Lebensmittel im Durchschnitt über tausend Meilen zurück, bevor sie gegessen werden, was die Umwelt enorm belastet.
In einer Hierarchie ist die Ausübung von Macht ein kontrollierter, linearer Prozess. In einem Netzwerk ist sie ein nichtlinearer Prozess mit vielfachen Rückkopplungsschleifen, und die Ergebnisse lassen sich oft nicht vorhersagen. Die Folgen jeder Aktion innerhalb des Netzwerks erfassen die gesamte Struktur, und jede Aktion, die ein bestimmtes Ziel verfolgt, kann sekundäre Folgen haben, die im Widerspruch zu diesem Ziel stehen.
Die Biotech-Werbung gaukelt uns eine schöne neue Welt vor, in der die Natur unter Kontrolle gebracht werde. Ihre Pflanzen würden gentechnisch erzeugte Waren sein, die auf die Bedürfnisse der Verbraucher zurechtgeschnitten seien. Neue Sorten sollen dürrebeständig und resistent gegenüber Insekten und Unkraut sein. Früchte würden nicht faulen und keine Druckstellen bekommen. Die Landwirtschaft werde nicht mehr auf Chemikalien angewiesen sein und daher nicht mehr die Umwelt schädigen. Die Lebensmittel würden besser und sicherer denn je sein, und der Hunger auf der Welt werde verschwinden.
Umweltschützern und Verfechtern der sozialen Gerechtigkeit kommt es sehr bekannt vor, wenn sie derart optimistische, aber völlig naive Prognosen lesen oder hören. Wir erinnern uns doch lebhaft daran, dass die gleichen agrochemischen Konzerne eine ganz ähnliche Sprache benutzten, als sie vor mehreren Jahrzehnten ein als «Grüne Revolution» gepriesenes neues Zeitalter der chemischen Landwirtschaft verkündeten. Seither sind die Schattenseiten der chemischen Landwirtschaft schmerzlich sichtbar geworden.
Heute wissen wir, dass die Grüne Revolution weder den Bauern noch dem Land, noch den Verbrauchern geholfen hat. Der massive Einsatz von chemischen Düngemitteln und Pestiziden hat die ganze Struktur der Landwirtschaft verändert, als die Agroindustrie den Bauern einredete, sie könnten durch den Anbau einer einzigen hoch ertragreichen Sorte auf großen Feldern und durch die Kontrolle von Unkraut und Schädlingen mit Chemikalien ihr Geld verdienen. Diese Praxis der Monokulturen brachte das hohe Risiko mit sich, dass große Flächen von einer einzigen Schädlingsart vernichtet werden konnten, und außerdem hat sie die Gesundheit der in der Landwirtschaft Tätigen und der in ländlichen Gegenden lebenden Menschen ernsthaft beeinträchtigt.
Langfristig wirkt sich die exzessive chemische Landwirtschaft katastrophal auf die Gesundheit des Bodens und der Menschen, auf unsere sozialen Beziehungen und auf die gesamte natürliche Umwelt aus, von der unser Wohlbefinden und unser künftiges Überleben abhängen.
Die zehn größten agrochemischen Unternehmen kontrollieren 85 Prozent des globalen Markts – die fünf größten Konzerne kontrollieren praktisch den gesamten Markt für gentechnisch modifiziertes Saatgut (GM).
Entwicklungshilfebehörden wissen seit langem, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen der Existenz von Hunger und der Dichte oder dem Wachstum der Bevölkerung eines Landes gibt. So herrscht verbreitet Hunger in dicht bevölkerten Ländern wie Bangladesh und Haiti, aber ebenso in dünn besiedelten wie Brasilien und Indonesien. Sogar in den USA gibt es mitten im Überfluss zwischen 20 und 30 Millionen unterernährte Menschen.
Einer Studie von 1997 zufolge leben in der Dritten Welt 78 Prozent aller unterernährten Kinder unter fünf Jahren in Ländern mit Nahrungsüberschüssen. In vielen dieser Länder, in denen der Hunger grassiert, gibt es einen Exportüberschuss an landwirtschaftlichen Gütern.
Die Wissenschaftler überspringen die natürlichen Artenbarrieren mit Hilfe aggressiver «Gentransfervektoren», die oft aus krankheitsverursachenden Viren gewonnen wurden, die sich mit existierenden Viren zu neuen Krankheitserregern rekombinieren können.[424] So erklärte ein Biochemiker vor kurzem auf einer Konferenz: «Die Gentechnik ähnelt eher einer Virusinfektion als der traditionellen Zucht.»
Eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Nachhaltigkeit ist die ständige Zunahme des materiellen Konsums. Wie sehr wir in unserer neuen Wirtschaft auch Informationsverarbeitung, Wissenserzeugung und andere immaterielle Dinge betonen, besteht doch das Hauptziel dieser Innovation darin, die Produktivität zu erhöhen, wodurch letztlich der Fluss materieller Güter zunimmt.
[Hoffnung] ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas sinnvoll ist, egal, wie es ausgeht. VÁCLAV HAVEL