Quelle: www.sueddeutsche.de

Digitalisierung erleichtert das Leben – was aber ist, wenn alles mal zusammenbricht? Physiker Armin Grunwald warnt die nächste Bundesregierung davor, fundamentale Gefahren zu ignorieren.

Können wir die Ausmaße dieser Entwicklung denn überhaupt absehen?

Jedenfalls stellen sich eine Menge Fragen. Nehmen Sie nur autonome Autos. Die sollen auch lernen können. Wenn sie eine schwierige Verkehrssituation erfolgreich überwunden haben, sollen sie daraus Lehren ziehen. Das heißt aber, dass die Software, die das Auto steuert, sich von Tag zu Tag ändert. Da fahren also Autos mit einer Steuerungssoftware herum, die so nie zugelassen worden ist. Dafür wiederum wird man Überwachungssoftware brauchen, die permanent kontrolliert, ob die veränderte Software noch in Einklang mit der Straßenverkehrsordnung ist . Die wird aber auch lernen. Also braucht man eine weitere Software, die wiederum die Überwachungssoftware kontrolliert. Da entstehen Kaskaden, deren Ende man sich kaum vorstellen kann.

Was, wenn wir an einen Punkt kommen, wo wir zwar die Probleme erkennen, aber ohne die neuen Hilfsmittel nicht mehr leben können?

Die Abhängigkeit von Technik hat in den letzten 300 Jahren massiv zugenommen. Wir erfinden die Technik für bestimmte Zwecke, aber wenn sie einmal da ist, passen wir uns an. Ein Navi etwa ist eine tolle Geschichte, aber wenn man nur noch damit unterwegs ist, dann verlernt man auch etwas. Das Strukturgedächtnis, die Fähigkeit zur Wahrnehmung räumlicher Gebilde. Auch das ist technikphilosophisch gesehen immer schon passiert. Dass mit neuen Techniken alte überflüssig werden, ist Teil der schöpferischen Zerstörung. Deshalb sind experimentelle Archäologen heute damit beschäftigt, Anlagen nachzubauen, um überhaupt die Methoden zu begreifen, wie Kathedralen oder Pyramiden gebaut wurden. Dieses Wissen verschwindet. Das ist prinzipiell normal, kann aber dann schlimm werden, wenn man sich von neuen Techniken über ein kritisches Maß hinaus abhängig macht.

Aber wo liegt dieses Maß, wer entscheidet das?

Das kann man sicher nicht objektiv angeben. Wir sind mittlerweile so abhängig vom Funktionieren großer technischer Infrastrukturen, also Energie, Wasser, Kommunikation, globale Nahrungsmittelversorgung, dass man sich schon jetzt Sorgen machen muss. Wir haben vor einigen Jahren im Büro für Technikfolgenabschätzung die Konsequenzen eines Blackouts untersucht. Ergebnis: Nach ein paar Tagen wären die ersten Todesfälle zu erwarten. Und diese Abhängigkeit steigt noch. Wenn wir mit der Energiewende Internet und Energieversorgung zusammenführen, dann noch die Elektromobilität dazu nehmen, dann haben wir am Ende nur noch eine große Infrastruktur, von deren Funktionieren alles abhängt. Das macht schon Sorge. Gerade, weil man dann nicht mehr den Stecker ziehen kann. Das Internet ist schon jetzt das Nervensystem, ohne das nichts mehr läuft.

Jetzt schüren Sie aber Panik.

Im Gegenteil. Das Gefährlichste ist, wenn das Bewusstsein der Verletzlichkeit verschwindet. Wenn man sich denkt, ach, bei uns kann so was gar nicht passieren. Wann fällt hier schon mal der Strom aus, oder eine Tankstelle ist leer? Die Leute merken nicht mehr, wie fragil das System ist. Hinweise auf Anfälligkeiten und Abhängigkeiten haben mit Panikmache nichts zu tun. Und außerdem gibt es auch immer Möglichkeiten, Folgen regional zu begrenzen.

Gibt es nicht ohnehin schönere Jobs als die in der Fabrik? Es ist ja nicht die erste Welle an Maschinisierung in der Industrie.

Mag sein. Aber die, deren Arbeitsplätze nun wegfallen könnten, sind nicht die gleichen, die für die neuen Arbeitsplätze qualifiziert sind. Da droht uns ein großes soziales Problem. Leider herrscht in unserer Gesellschaft immer noch das Fortschrittsdenken und der Glaube an Win-win Situationen vor. Das wird vor allem davon angetrieben, dass die deutsche Wirtschaft stark vom Maschinenbau abhängig ist, also auch vom Export solcher Roboter. Entsprechend wird in Kauf genommen, dass Bevölkerungsgruppen aus dem Modell herausfallen.

Gewinner und Verlierer hat es immer gegeben, oder?

Ja, aber in der öffentlichen Debatte wird immer so getan, als sei das Ganze eine Win-win-Situation, so wie seinerzeit bei Kohls „blühenden Landschaften“. Über die Verlierer redet man nicht. [„Stumme Zeugen„] Es ist jetzt schon so, dass wir zwar eine gute Beschäftigungssituation haben, aber gleichzeitig viele prekäre Jobs. Dass heute Männer und Frauen arbeiten, ist unter Emanzipationsgesichtspunkten positiv, aber für viele Familien geht es ökonomisch gar nicht mehr anders, weil einer alleine mit einem mittleren Job nicht mehr vier Personen ernähren kann wie noch vor einigen Jahrzehnten. Es soll nicht zynisch klingen: Aber das ist Teil unserer verdrängten gesellschaftlichen Realität. Es gibt Teile der Gesellschaft, die sind abgeschrieben. Mit denen macht man nicht mehr die Zukunft. Als Gesellschaft geht es uns gut, verglichen mit den meisten Ländern sogar sehr gut. Aber das kann aus verschiedenen Gründen ein Ende haben.

Technikbegeisterung, und was daraus geworden ist… Überwiegt für Sie inzwischen das Negative?

Es gibt kein Messverfahren, um Kosten und Nutzen klar ausrechnen zu können. Das ist mehr ein Bauchgefühl, und das ist: Fortschritt ist gut und richtig, aber ich mache mir zunehmend Sorgen, dass da Entwicklungen einreißen, die einen so hohen Grad an Unumkehrbarkeit haben, dass sie außer Kontrolle geraten. Wenn wir nur noch funktionieren müssen, um der Technik hinterherzulaufen, dann ist irgendetwas verkehrt. Das hat Hegel schon auf den Punkt gebracht, mit der Beziehung von Herrn und Knecht.

Wie meinen Sie das?

Je mehr sich der Herr auf seinen Knecht verlässt, desto abhängiger wird er von ihm. Eigentlich hat dann der Knecht die Herrschaft: Er kann ohne den Herrn gut leben, aber umgekehrt nicht. Entsprechend können wir ohne Technik nicht mehr leben.

Fortschritt wird gern mit einem Tsunami verglichen: Er kommt über uns, egal was wir machen. Das meine ich mit Technikdeterminismus: Es kommt alles sowieso, also müssen wir uns anpassen. Eine gefährliche Sichtweise, denn dann stellt keiner mehr die grundlegenden Fragen, ob nicht auch alles oder wenigstens manches anders sein könnte. Das Fatale ist: Wenn genügend Leute an den Tsunami glauben und sich entsprechend verhalten, dann wird er zur self-fulfilling prophecy.