Letzte Aktualisierung am 11. Februar 2019.

Quelle: www.spektrum.de

Kohlekraftwerke liefern nicht nur Strom, sie stabilisieren auch das Stromnetz. Doch künftig wird es keine Großkraftwerke mehr geben. Trotzdem soll das Ökonetz der Zukunft widerstandsfähig bleiben – mit der Hilfe von neuen digitalen Sicherungstechnologien. Einige stehen bereits parat und werden in den nächsten fünf Jahren in Betrieb geben.

Vor Kurzem war das Wort »Netzstabilität« den meisten Menschen in Deutschland noch ziemlich unbekannt; zumindest klang es abstrakt. Lief unser Stromnetz nicht unauffällig und selbstverständlich? Der Strom kommt aus der Steckdose, überall, zu jeder Zeit und so stabil, dass kein Birnchen flackert. Allerdings geisterte Anfang März 2018 das Wort »Netzstabilität« dann doch plötzlich recht häufig durch die Medien. Zum ersten Mal nach langer Zeit hatten die Menschen in Europa eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutet, wenn es im Stromnetz mal nicht rundläuft. Dabei gab es nicht einmal einen großen Knall, keinen Stromausfall: Nur die Uhren an Küchenradios, Elektroherden und Radioweckern hatten seit Jahresbeginn begonnen, etwas langsamer zu ticken. Jeden Tag verspäteten sie sich um ein paar Sekunden, bis die Uhren schließlich Anfang März rund sechs Minuten nachgingen. So merkwürdig wie diese scheinbare Verlangsamung der Zeit erschien die Ursache für die Verspätung: ein Streit zwischen Kosovo und Serbien, der sich um Stromlieferungen drehte. »Dieser Fall macht deutlich, wie empfindlich das Stromnetz reagieren kann, wenn es Abweichungen vom Normalzustand gibt« – [Siehe Netzzeitabweichung – Unterdeckung im europäischen Stromversorgungssystem]

Skeptiker fürchten, dass das europäische Stromnetz künftig mit dem Ausbau der erneuerbaren Energien ebenfalls an Stabilität verlieren könnte; erstens, weil sich das schwankende Angebot von Sonne und Wind umso stärker auf das Stromnetz auswirkt, je mehr Ökostrom eingespeist wird, und zweitens, weil mit der Abschaltung großer Kohlekraftwerke die großen rotierenden Stromgeneratoren verloren gehen, die das Netz heute stabilisieren.

Stefan Tenbohlen erläutert, wie die klassische Stabilitätsregelung im Stromnetz funktioniert: »Wenn zum Beispiel irgendwo der Stromverbrauch plötzlich zunimmt, dann ist das wie beim Radfahren am Berg. Dann geht die Frequenz im Netz runter. Dann müssen die Kraftwerke reagieren.« Umgekehrt steigt die Frequenz, wenn auf einmal große Verbraucher, etwa Zementwerke, abgeschaltet werden. Kurze Schwankungen von wenigen Sekunden puffern die Kraftwerke durch die Trägheit der mächtigen rotierenden Generatoren einfach ab. »Diesen Effekt bezeichnen wir als Momentanreserve«, erklärt Tenbohlen. »Hält die Abweichung länger als zehn Sekunden an, folgt die Primärregelung. Dann wird mehr Dampf auf die Turbine gegeben, so dass sie sich schneller dreht.« Dauert die Abweichung länger als eine Minute, müssen Kraftwerke in benachbarten Regionen zugeschaltet werden, die sich schnell hochfahren lassen und die schnell zusätzlichen Strom liefern – etwa Gaskraftwerke, die schnell auf Touren kommen, oder Pumpspeicherkraftwerke, die ihre Schleusen öffnen, damit das Wasser durch die Turbinen rauscht. »Das ist die so genannte Sekundärregelung«, sagt Tenbohlen. Im Kosovo bestand das Problem darin, dass im kalten Winter zu viel Strom verbraucht wurde. Das benachbarte Serbien hätte die Sekundärregelung mit seinen Kraftwerken leisten müssen, weigerte sich allerdings aus politischen Gründen, so dass die Netzfrequenz über Wochen knapp unter 50 Hertz lag. Das war im ganzen europäischen Netz zu spüren und hat die Uhren verlangsamt.

Doch was ist zu tun, wenn in den kommenden Jahren die klimaschädlichen Kohlekraftwerke abgeschaltet werden und die Momentanreserve und die Primärreglung wegfallen? An der Antwort auf diese Frage arbeiten heute Dutzende von Forschergruppen in Europa – und dabei wird eines deutlich: Fallen die alten Kraftwerke weg, muss das Stromnetz intelligenter werden. Zwar ist der Begriff »Smart Grid« schon lange bekannt. Genauso lange aber fehlte es an überzeugenden Lösungen, um die Ideen in die Tat umzusetzen. Inzwischen ist die Forschung einen Schritt weiter. »Die Technologien, die wir benötigen, gibt es jetzt«, sagt Sebastian Lehnhoff, Energieinformatiker am Oldenburger Informatikinstitut Offis. »Wir befinden uns aktuell in einer Übergangsphase: In den kommenden fünf bis zehn Jahren werden viele dieser Technologien von den Pilotanwendungen in den realen Betrieb gehen.«

Einer von Lehnhoffs Schwerpunkten sind Algorithmen, mit denen sich der Stromverbrauch und die Stromerzeugung schon in Dörfern, Kleinstädten und Stadtteilen ausgleichen lassen – etwa der produzierte Strom von Solaranlagen und der Stromverbrauch der Elektroautos. Weil Probleme bereits in den kleinen Ortsnetzen gelöst werden, müssen die großen Kraftwerke weniger regeln. »Es geht darum, beides so miteinander zu verbinden, dass Konflikte von vornherein vermieden werden – also weder ein Überangebot an Solarstrom auftritt noch ein Strommangel, wenn künftig die Elektroautos in großen Mengen Strom laden.« Die Algorithmen, die Lehnhoff und sein Team aktuell in mehreren Projekten entwickeln, basieren unter anderem auf Prinzipien der Selbstorganisation, bei denen Elektroautos direkt mit den Solaranlagen in Verbindung treten.

Eine Voraussetzung für ein intelligentes Aushandeln des Stroms ist auch, dass nicht nur Erzeuger und Verbraucher intelligenter werden, sondern das ganze Ortsnetz, das so genannte Verteilnetz. Denn bis heute ist es noch ziemlich dumm. »Das lokale Verteilnetz wird traditionell im Blindflug betrieben«.

»Wenn in einer Wohnsiedlung künftig alle Leute nach Feierabend ihr Elektroauto an die Steckdose anschließen, dann werden die kleinen Trafos an den Straßen schnell überlastet.«

Um das Stromnetz stabil zu halten, müssen künftig jedoch nicht nur die Verteilnetze intelligenter werden, weil sich nicht alle Schwankungen vor Ort dämpfen lassen. Ebenso braucht es eine smarte überregionale Verknüpfung von Ortsnetzen.

Statt bei Netzschwankungen in einer Region künftig Kraftwerke für die Primär- oder Sekundärregelung zu nutzen, könnten künftig einzelne Ortsnetze so verschaltet werden, dass die stabilen Ortsnetze Abweichungen anderswo ausgleichen. Für Griechenland ist diese Idee besonders interessant, weil dort nicht nur virtuelle Stromnetz-Inseln miteinander verknüpft werden, sondern reale – die vielen Inseln vor der Küste. Die griechischen Projektpartner sehen Irland als Vorbild, denn anders als im Rest von Europa dürfen in Irland die großen Windparks zur Sicherung der Netzstabilität beitragen. »Anderswo werden sie abgeschaltet, wenn es Instabilitäten gibt«, sagt EASY-RES-Koordinator Charis Demoulias von der Universität Thessaloniki. »Wie Irland zeigt, können die Windparks Schwankungen aber sehr gut glätten, wenn man sie entsprechend steuert.« So kann man etwa die Trägheit der Windradgeneratoren durchaus nutzen, um Momentanreserve bereitzustellen. Denn in der Summe bringen es die Generatoren in einem Windpark auf große rotierende Massen.

Um das Netz zu ertüchtigen, hat man in der Vergangenheit stets auf noch mehr Kupferkabel und einen Ausbau der Kraftwerkskapazität gesetzt. Das Potenzial der Informatik wurde lange nicht berücksichtigt.«

Trotz dieser Fortschritte wird der Umbau des Stromnetzes von der Großkraftwerk-Landschaft zum digitalen Ökonetz seine Zeit brauchen. Manche Experten sprechen von einer Generationenaufgabe – und vergleichen das Tempo des Stromnetzumbaus mit dem des Autobahnbaus. »Für die nächsten Jahre werden wir definitiv noch Kraftwerke benötigen, um das Netz zu stabilisieren«.

Ob und wie die Stabilität des Stromnetzes künftig sichergestellt wird, ist für Stefan Tenbohlen damit nicht nur eine technische, sondern vor allem auch eine energiepolitische Frage.

Deutschland steigt nach Kernkraft auch aus Kohle aus

Quelle: derstandard.at

Berlin – „Atomkraft? Nein Danke!“ Diese Debatte ist in Deutschland längst ausdiskutiert. Der Großteil der Atomkraftwerke ist abgeschaltet, die verbliebenen sieben werden bis Ende 2022 vom Netz gehen. Jetzt hat sich Berlin ein noch ehrgeizigeres energiepolitisches Ziel gesetzt: Um die Emissionen in Zeiten des Klimawandels zu senken, soll in absehbarer Zeit auch kein Strom aus Kohle mehr fließen.

Am vorigen Mittwoch hat die deutsche Regierung eine Kommission für den Kohleausstieg eingesetzt. 31 Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften, Umweltverbänden und Wissenschaft sollen schon bis Ende dieses Jahres ein Enddatum für den Kohleausstieg festlegen. Das dürfte wohl frühestens 2030 sein. Umweltschützern kann es nicht schnell genug gehen, während Wirtschaft und Landespolitiker bremsen. Die Unternehmen fürchten um eine stabile Stromversorgung, die Ministerpräsidenten um Arbeitsplätze in Bergbau und Kraftwerken.

Kommentar

Ein ausgezeichneter Artikel im Spektrum, der einige zentrale Probleme der aktuellen Energiewende adressiert. Es geht dabei vor allem um die Momentanreserve, die von zentraler und überlebenswichtiger Bedeutung ist. Denn wenn diese nicht mehr ausreicht, kollabiert das europäische Verbundsystem. So sehr auch der deutsche Kohleausstieg zu begrüßen wäre, so gefährlich ist er auch, wenn nicht zeitnah entsprechende Kompensationsmaßnahmen erfolgen. Das was derzeit beim deutschen Atomausstieg geplant ist: Stilllegung aller verbliebenen KKW bis 2022 und Fertigstellung der dafür erforderlichen Ersatzleitungen frühestens ab 2025 ist nicht besonders vertrauenserweckend. Schon gar nicht, wenn man immer wieder beobachten muss, wie mit Zahlenspielereien die Realität schön gerechnet wird. Zum anderen werden gerne Lösungsansätze schnell als großer Durchbruch gefeiert. Es ist wichtig, dass sie entwickelt werden bzw. sogar bereits verfügbar und einsetzbar sind. Aber wenn man dann im Gegenzug vernimmt, dass sich die Umsetzung nicht rechnet, dann sind wir noch Meilenweit von wirklichen Lösungen entfernt. Zum anderen kommt hinzu, dass der Umbau einmal massiv Geld kostet, das nirgends wirklich vorhanden ist. Und es reicht nicht die erfolgreiche Umsetzung eines Pilotprojektes, sondern es ist ein flächendeckender Ausbau erforderlich, um die Systemdienlichkeit wirklich sicherstellen zu können. Und hier ist einfach eine enorme und steigende Komplexitätslücke zu beobachten, die uns Sorgen bereiten sollte. Denn wie ein Schweizer Kollege das treffend zum Ausdruck gebracht hat: “Das Stromnetz folgt physikalischen Gesetzmäßigkeiten und ist unerbittlich: Wenn die Maßnahmen nicht wirken, schaltet es einfach ab!”

Daher muss der nun forcierte deutsche Kohleausstieg durchaus kritisch betrachtet bzw. verfolgt werden. Ohne entsprechender Begleitmaßnahmen, über die selten diskutiert wird, würde die Systemstabilität weiter drastisch sinken. Hier geraten auch viele Interessen aneinander, was nicht unbedingt zur sachlichen und nüchternen Diskussion beiträgt. Die Systemstabilität hat wenige Interessensvertreter.

Zum anderen bestätigt der Spektrum Beitrag unseren Energiezellenansatz bzw. das systemische Design. Die Probleme müssen möglichst dezentral, dort, wo sie auftreten, gelöst werden und nicht wie derzeit einfach in die nächste Ebene hochgeschoben werden. Hier ist sicherlich eine größere Transparenz erforderlich, welche Kosten dadurch verursacht werden. Der Ausbau von E-Tankstellen klingt trivial, muss man doch nur an die bestehende Infrastruktur einen Anschluss hinzufügen. Den wenigsten ist bewusst, dass das der geringste Aufwand ist. Die gewünschten Leistungen bzw. bei einem steigenden Ausbau müssen weitreichende Upgrade-Maßnahmen in den übergelagerten Infrastrukturen durchgeführt werden. Für die Kosten will aber niemand aufkommen. Auch wenn es auf den ersten Blick teurer ist, auf lokaler Ebene die Probleme zu lösen, sinken die Kosten insgesamt deutlich. Nur, wenn jeder nur auf seinen kleinen Ausschnitt schaut und diesen zu optimieren versucht, werden wir nicht dorthin kommen. Daher brauchen wir für eine erfolgreiche Energiewende, wovon wir noch meilenweit entfernt sind, einen anderen Denkrahmen (siehe das Neun-Punkte-Problem)!

Ja, wir haben das Wissen und auch schon viele technische Lösungen, um die Energiewende erfolgreich voranzutreiben. Aber wir sind noch sehr weit von wirklich breiten Umsetzungen entfernt, um auch mittelfristig die erforderliche Systemstabilität gewährleisten zu können! Wir benötigen dazu vor allem einmal ein vernetztes Denken und nicht nur lauter Einzelbaustellen und Einzeloptimierer.