Quelle: Die Presse – Japans Qualität außer Kontrolle – Sonntag, 11.02.18, S. 17

Jahrzehntelang kopierte alle Welt japanische Fertigungsmethoden. Nun gelten sie als Mitgrund der Skandalserie um gefälschte Qualitätskontrollen. War Kaizen der falsche Weg?

Ist etwas nicht in Ordnung, greift der japanische Arbeiter zum Strick, um das Problem im Team zu lösen. Über den Fertigungsstraßen von Toyota hängen Seile, an denen die Monteure ziehen, sobald ihnen eine kleine Unregelmäßigkeit auffällt – auch wenn nur eine Schraube zu Boden gefallen ist. Sofort stoppt das Band, das Problem wird behoben, und weiter geht es mit „null Fehlern“.

Seit Generationen pauken BWLStudenten die Prinzipien des „Kaizen“. Tausende Businessbücher predigen diesen „Wandel zum Besseren“. Forscher zeichnen nach, wie Japan nach dem Krieg mit Weisheiten aus der Kampfkunst und dem Zen-Buddhismus zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufstieg. Firmenlenker in aller Welt bekommen leuchtende Augen, wenn sie vom „Lean Management“schwärmen, das ihre Kosten verschlankt. Und auch von Bludenz bis Hollabrunn schwören Produktionsleiter ihre Teams auf Eigeninitiative und einen „kontinuierlichen Verbesserungsprozess“ zu mehr Qualität ein.

Aber was ist da plötzlich los? In jüngster Zeit scheinen einige in Japan vergessen zu haben, die Reißleine zu ziehen. Seit einem halben Jahr erschüttert eine Skandalserie die Industriekonzerne Nippons. Ob Nissan, Subaru, Mitsubishi Materials, Kobe Stahl oder der Faserhersteller Toray – immer geht es um ganz ähnliche Vorwürfe: manipulierte Qualitätsberichte, getürkte Tests, gefälschte Spezifikationen oder Kontrollen, bei denen ungelernte Trainees die Namensschilder der Inspektoren tragen und ahnungslos Freigaben erteilen. (…)

(…) Die alten Methoden sind verblasst und wirken immer noch Wunder, wenn ihre Erfinder sich auf sie besinnen. Aber nun zeigt der zweite Blick, den etwa das „Wall Street Journal“wagt: Im System selbst ist der Wurm drin. Der Verdacht: Zum Teil war Kaizen ein Wandel zum Schlechteren. Kontaktverlust. Eines der hehren Prinzipien lautet: Die Arbeiter in der Fabrikshalle sind selbst für die Qualität verantwortlich. Sie lösen im Team die Probleme, sie stoßen Verbesserungen und Innovationen an. Das motiviert und verstärkt die Identifikation mit Produkt und Firma. Zugleich entlastete es das Management, das sich lieber um gute Beziehungen zu Kunden, Banken und Politik kümmerte.

So aber verloren die Vorgesetzten mit der Zeit den Kontakt zum „Gemba“, dem Ort der Wertschöpfung. Während sich Manager um ihre Verantwortung drückten, drückten Vorarbeiter in den Fabrikshallen immer öfter ein Auge zu – besonders, wenn es mit der Lieferzeit knapp wurde und ihnen die Anforderungen der Kunden übertrieben schienen. Man darf den Vorständen glauben, dass sie davon nichts mitbekamen. „Es ist jenseits meiner Vorstellungskraft, wie groß das Problem geworden ist“, bekannte Kobe-Chef Hiroya Kawasaki zerknirscht.

Die Situation verschärft hat der Kostendruck, den Japans Industrie seit Beginn der langen Stagnationsphase Anfang der Neunzigerjahre ausgesetzt ist. Davor hatte sie die amerikanische und deutsche Konkurrenz vor sich hergetrieben, mit einer unschlagbaren Kombination: hohe Qualität, vergleichsweise günstig. Dabei half die Kaizen-Philosophie. Sie ließ die Lager schrumpfen, verbannte alles Unnütze aus den Prozessen und senkte so die Kosten. Aber mit dem kometenhaften Aufstieg der Volkswirtschaft kletterten auch die Löhne kräftig nach oben. Länder wie Südkorea, Taiwan und später China kopierten das Fertigungsmodell, punkteten mit niedrigeren Personalkosten und gewannen Marktanteile, bei Elektronik, Autos und Schiffbau. Die japanischen Hersteller mussten reagieren. Sie sparten Personal ein. Qualitätskontrolleure waren oft die ersten Opfer, weil sie nicht so eifrig an der Wertschöpfung teilnahmen wie Arbeiter am Fließband. Teures Stammpersonal wurde durch Leiharbeiter ersetzt, denen die enge Bindung an Produkt und Unternehmen fehlt.

Die Fabriksarbeiter haben zu viel Verantwortung, die Manager drücken sich davor. Um mehr zu bieten als die Chinesen, schraubte man die Vorgaben unrealistisch hoch.

Dennoch bleiben die Produktionsunternehmen weniger rentabel als in anderen hoch entwickelten Staaten. Was ein Problem ist: Nur wer genug Gewinn macht, kann nachhaltig in mehr Qualität investieren. Dabei ergreifen Maschinenbauer und Zulieferer in der Vermarktung die Flucht nach noch weiter oben, um sich von chinesischer Konkurrenz abzusetzen. Ihre Kunden können die Anforderungen fast nach Belieben hinaufschrauben. Das ist oft unrealistisch, die Fabriksarbeiter schütteln darüber den Kopf. Von den Vorgesetzten im Stich gelassen, nehmen sie diverse Abkürzungen – bis hin zu gefälschten Dokumenten.

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Kommentar

Ein hervorragender Beitrag, der toll die Zusammenhänge und Probleme unseres einfachen Ursache-Wirkungs-(Linearen) Denkens beschreibt. Es gibt eine erfolgreiche Methode, die auch aus High Reliability Organizations (HRO) bekannt ist: Auf kleine Fehler (schwache Signale) wird sofort reagiert. Jeder hat das Recht und die Pflicht sofort einzugreifen (Strick ziehen). Die dezentrale Selbstorganisation ist erfolgreich. Doch es geht nicht um ein entweder-oder, sondern um ein sowohl-als-auch. Was hier offensichtlich im Laufe der Zeit schief gegangen ist. Das Management hat die „Beziehung“ zur Produktion („unsichtbare Fäden“) verringert bzw. vernachlässigt. Gleichzeitig wurden immer mehr Vorgaben („Bürokratie“) und übertriebene Anforderungen geschaffen. Die Rückkoppelungen wurden weniger bzw. blieben aus. Die Folge: Zwei „unabhängige“ Systemsteuerungen, die nicht mehr aufeinander abgestimmt sind. Dann kommt noch der Kostendruck dazu, was wir derzeit überall sehen. Die nächste Folge: Es wird getrickst, Reserven und Redundanzen werden über das gesunde Maß hinaus reduziert. Das System wird anfälliger für Störungen. Kurzsichtige Entscheidungen (Abschaffung der Qualitätskontrolle) bringt zwar eine kurzfristige Gewinnsteigerung, verschärft aber die Probleme. Das sinkende Know-how (Outsourcing) lässt sich im Alltag eine Zeit lang ganz gut kompensieren (siehe etwa Too-big-to-fail). Die warnenden Stimmen werden jedoch weiter ignoriert, obwohl sie zunehmend mehr werden. Die Scheinsicherheit steigt. Und irgendwann macht es bum und die ganze Blase kracht zusammen.  Aber so lange das nicht passiert, glauben wir, wir haben eh alles im Griff. Es scheitert daher wie so oft nicht am Wissen, sondern an unserer Lernfähigkeit, dieses Wissen umzusetzen bzw. von einem System auf andere Systeme zu übertragen. Und zu erkennen, dass sich eine erfolgreiche Methode nicht unendlich ausdehnen lässt. Wie etwa beim Wachstum. Schön, wenn man in einem Artikel so viele nützliche Zusammenhänge präsentiert bekommt. Die Frage ist, ob diese auch von den Leserinnen so erkannt werden.