Quelle: diepresse.comblog.arbeit-wirtschaft.at (Heidemarie Staflinger, Kai Leichsenring)

Eines Tages reichte es Jos de Blok. Lange hatte der holländische Pfleger zugesehen, wie ineffizient der Staat und die Anbieter die mobile Pflege für Alte und Kranke organisierten. Viel Zeit verbrachte er mit Berichten und anderem bürokratischen Kram, der Vorgesetzte und Controller beschäftigte. Die Betreuten murrten, weil die Qualität der Pflegekräfte sank. Wegen der Kosten, die auf Teufel komm raus runter mussten. Aber das Gegenteil geschah: Sie gingen in die Höhe.

Rund um 2006 starteten einige Gemeindeschwestern und -krankenpfleger („community nurses“) in den Niederlanden ein Projekt der ganzheitlichen, wohnortnahen Versorgung pflegebedürftiger Menschen. Gegenüber jener Organisation der Hauskrankenpflege, deren Professionalisierung seit den 1980er-Jahren durch zunehmend tayloristische Aufgabenteilung und bürokratisierte Abläufe geprägt war, ging es um die Aufwertung der beruflichen Kompetenzen des Pflegepersonals und die Ermöglichung ganzheitlicher Pflege entsprechend den Bedürfnissen der KlientInnen. Dazu sah das Konzept die Gründung kleiner Teams von höchstens 12 „community nurses“ (im dt. Sprachraum bekannt als Gemeindeschwestern) mit mindestens 3-jähriger Bachelor-Ausbildung und AssistentInnen (2-jährige Ausbildung) vor. Durch eine extrem flache Organisationsform und mittels IT-Anwendungen in der Planung, Dokumentation und Qualitätsentwicklung werden die Overheadkosten so niedrig wie möglich gehalten. Die zentrale Administration organisiert vor allem Coachings für neue Teams oder zur Konfliktmediation. Ansonsten sind keine hierarchischen Zwischenebenen vorgesehen. Die Teams entscheiden selbst über Einsatzpläne, Fortbildungsaktivitäten und die Aufgabenverteilung. Besprechungen finden nur bei Bedarf z. B. bei Neuaufnahmen von MitarbeiterInnen statt, wobei hier vorwiegend darauf geachtet wird, ob die neuen KollegInnen zum Team und zur Organisationskultur passen.

Nach zehnjähriger Entwicklung und einem Wachstum von einem Team auf über 900 Teams, die inzwischen über die gesamten Niederlande verteilt sind, kann Buurtzorg auf eine beeindruckende Erfolgsgeschichte zurückblicken:

  • mehrmaliger Arbeitgeber des Jahres,
  • die Übernahme des Konzepts durch MitbewerberInnen,
  • die Verbreitung des Konzepts in anderen Ländern und vor allem
  • überragende Zufriedenheitswerte bei MitarbeiterInnen und KlientInnen.

Neben diesen wichtigsten Aspekten konnte auch mehrfach nachgewiesen werden, dass die Effizienz von Langzeitpflege in der Nachbarschaft gesteigert werden konnte – im Vergleich mit anderen Anbietern konnten bessere Ergebnisse bei geringerem Ressourceneinsatz erreicht werden.

Es wird deutlich, dass dieses Modell auf der Grundannahme einer ganzheitlichen Orientierung in der Pflege und weitreichenden Autonomiespielräumen für die Beschäftigten beruht. Die Beschäftigten organisieren ihre Arbeit im Team selbst und werden durch eine schlanke Führung nur im Bedarfsfall unterstützt. Die Teams arbeiten weitgehend autonom mit Zielvereinbarungen, wobei die KlientInnen die Zeiten vorgeben. Die Personalauswahl erfolgt direkt durch die Teams. Taylorisierte Arbeitsteilung wird durch ganzheitliche Aufgabenerfüllung ersetzt. Auffällig ist, dass der Informationsfluss sehr transparent und zeitnah gehalten ist und von allen Beschäftigten eingesehen werden kann. Nicht verwunderlich, dass auch strategische Entscheidungen, wie etwa die Erweiterung bzw. Bildung neuer Teams, durch die bestehenden autonomen Teams selbst getragen werden.

Früher leitete man aus der Zahl der Patienten und ihren Bedürfnissen ein Kontingent an Aufgaben mit Zeitvorgaben ab, um die Kosten in Schach zu halten. So machte es die Krankenversicherung mit den Organisationen und diese mit den Pflegerinnen. Was dazu führte, dass ein einmal fixiertes Kontingent immer ausgenutzt wurde, ach dann, wenn der Kunde die Hilfe gar nicht (mehr) braucht. Das hilt die Kosten pro Patient konstant hoch. Und in Summe stiegen sie, weil es immer mehr Alte und Pflegebedürftige gibt.

Das Ziel bei Buurtzorg aber ist, den Patienten und ihren Familien zu mehr Selbstständigkeit zu verhelfen. Weil die Pflegerinnen immer in der eigenen Nachbarschaft agieren, wo man sich kennt, können sie informelle Netzwerke aufbauen, die bei vielen Aufgaben entlasten. So kommen sie schon bald mit weniger Besuchen und Stunden aus. Und sorgen dabei noch für gute Laune.

Schon 2010 errechnete die Unternehmensberater von EY, dass der neue Ansatz Einsparungen von 40 Prozent ermöglicht.

Dass eine „selbstorganisierte Reorganisation“ gelingen kann, hat er bei einer Hausreinigungsfirma gezeigt, die er insolvent übernahm und in der sich nun 4.000 Putzkräfte selbst verwalten. Sein Modell zieht immer weitere Kreise: Auch Schulen und Polizeibehörden lernen von ihm.

Kommentar

Ein tolles und vor allem sehr erfolgreich umgesetztes Beispiel bei der Umsetzung der Dezentralisierung von Strukturen im Rahmen der Transformation von der Industrie- zur Netzwerkgesellschaft. Und eigentlich „gewinnen“ dabei alle Beteiligten, außer, dass weniger Managerjobs notwendig sind. Und auch ein Beispiel dafür, dass man den Menschen sehr wohl etwas zutrauen kann und sich nicht an den negativen Ausreißern orientieren sollte. Gerade derart organisierte dezentrale Strukturen sind auch wesentlich krisenfester bzw. neudeutsch: resilienter