Das Buch COVID-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit von Nikil Mukerji und Adriano Mannino wurde im April 2020 während des ersten Höhepunkts der COVID-19-Pandemie verfasst und gibt interessante Anhaltspunkte, wie aus risikoethischer Sicht mit dieser Pandemie oder anderen großen Krisen/Herausforderungen umgegangen werden kann. Dabei werden getroffene und nicht getroffene Maßnahmen kritisch hinterfragt und beleuchtet. Siehe auch das Interview „Wir sollten auf Vorrat denken„.
Hier einige Auszüge aus dem Buch, die zum weiterlesen animieren und zum anderen als Gedankenanstoß für Überlegungen rund um das Thema Blackout-Vorsorge dienen sollen. Denn gerade bei einem möglichen oder sogar sehr realistischen Szenario eines europaweiten Strom-, Infrastruktur- sowie Versorgungsausfall („Blackout“) wäre „Denken auf Vorrat“ umso wichtiger, da in einer solchen Krise keine Zeit mehr für Überlegungen und Beurteilungen bleiben wird. Denn wir wissen: „Wer nicht plant, plant sein Versagen“
Die wichtigsten Aussagen zuerst
Wir werden darauf zurückkommen, wie wichtig es ist, wechselseitig von unseren Erfahrungen und Fehlern zu lernen, gerade und besonders im Kontext globaler Katastrophenrisiken. Denn wer nur aus den eigenen Fehlern lernt, lernt wenig– zu wenig.
Wann immer man nicht an ein Worst-Case- bzw. Bad-Case-Szenario glaubt, legt die eigene Fehlbarkeit sogleich die Fragen nahe: Was, wenn ich falsch liege? Oder was, wenn ich mit meiner Einschätzung der Wahrscheinlichkeit, dass der schlimme Fall (Bad Case) eintritt, zwar richtig liege, dieser unwahrscheinliche schlimme Fall aber dennoch eintritt? Wie schlimm wäre dieses Szenario, welches Schadensausmaß wäre mit ihm verbunden? Welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um mich gegen das Bad-Case-Szenario abzusichern, sollte es eintreten? Welche Kosten wären mit diesen Maßnahmen verbunden und in welchem Verhältnis stehen sie zum Schadensausmaß des Bad-Case-Szenarios?
Wenn die erwarteten Kosten der Maßnahmen im Vergleich zum Schadensausmaß des Szenarios hinreichend gering sind, dann sollten die Maßnahmen ergriffen werden. Diesem Prinzip des Hedging bzw. der Risikoabsicherung folgen wir zum Beispiel dann, wenn wir im Auto einen Sicherheitsgurt tragen: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass wir in einen schweren Unfall verwickelt sein werden, und trotzdem sichern wir uns ab.
Erfolgreiches Hedging besteht gerade darin, nicht alles auf eine Karte zu setzen, also die Bemühungen aufzuteilen bzw. zu diversifizieren. Wenn jede der genannten Maßnahmen wirken könnte und hinreichend günstig ist, dann sollte unverzüglich das ganze Maßnahmenpaket ergriffen werden.
Für jede Maßnahme kann dabei gelten, was der Risikoforscher Nassim Taleb über das Tragen von Masken angemerkt hat: Wir sollten nicht nur dann Masken tragen, wenn wir über starke empirische Evidenz verfügen, dass ein Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern. Wir sollten Masken tragen, wenn und weil wir nicht wissen, ob das Virus durch die Luft übertragen wird und Masken dies behindern können. Taleb warnt seit Jahrzehnten vor Pandemien und anderen Katastrophenrisiken.
Wir können uns wertvolle Chancen verspielen, wenn wir warten, bis die empirischen Daten endlich eindeutig sind.
Präventionsmaßnahmen hätten auch im vorliegenden Fall umfassender, früher und schneller ergriffen werden können– und müssen.
Welche Katastrophe uns als Nächstes droht, ist nicht sicher. Sicher aber ist: Es wird sie geben.
These 1: Es war schon lange bekannt, dass eine Katastrophe dieser Art im Bereich des Möglichen liegt. These 2: Unmittelbar nach dem Ausbruch von Covid-19 in Wuhan gab es Anzeichen dafür, dass eine Pandemie bevorstehen könnte. These 3: Das Schadenspotential einer Covid-19-Pandemie war kurz nach dem Ausbruch erkennbar.
Ein kurzer Blick in die Geschichte der Weltgesundheit lehrt also, dass katastrophale Infektionswellen die Menschheit regelmäßig heimsuchen. Und daraus muss man schließen: Pandemien sind in regelmäßigen Abständen erwartbar. Dies gilt umso mehr, als wir die Ursachen und Ursprünge der Pandemien inzwischen gut verstehen.
Wenn These 1 zutrifft, war also durchaus vorhersehbar, dass die Welt früher oder später eine schwerwiegende virale Pandemie erleben würde. Dennoch haben die Entscheidungsträger nahezu aller westlichen Länder nicht mit hinreichender Alarmbereitschaft auf den Ausbruch von Covid-19 im chinesischen Wuhan reagiert.
Entsprechend These 2 war schon früh deutlich geworden, dass SARS-CoV-2 durchaus das Potential hatte, eine Pandemie auszulösen. Übersehen wurde diese Tatsache insbesondere deshalb, weil Argumente in Umlauf waren, die auf falschen sachlichen Annahmen oder grundlegenden Denkfehlern beruhen.
Weil dieser Unterschied zwischen saisonaler Grippe und SARS-CoV-2 bekannt war, war auch das pandemische Potential des Virus ohne größere Schwierigkeiten erkennbar.
Diese Unterschiede waren früh bekannt, und wer sie zur Kenntnis nahm, musste erwarten, dass sich die Eindämmung von SARS-CoV-2 deutlich schwieriger gestalten würde als die Bekämpfung von SARS-CoV.
Wer 60 Millionen Menschen während zwei Monaten unter militärischer Gewaltandrohung in Quarantäne steckt und damit gewaltige Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft in Kauf nimmt, würde völlig irrational handeln, wenn er nicht von einer außerordentlich bedrohlichen Gefahrenlage ausginge. Daher ließ sich aus dem Verhalten Chinas der Schluss ziehen, dass SARS-CoV-2 hochgefährlich sein könnte.
All diese Indizien hätten die hiesigen Behörden, die Politik, die Wissenschaft und die Gesellschaft in hohe Alarm- und Reaktionsbereitschaft versetzen müssen. Die nach außen demonstrierte Gelassenheit mag gut gemeint gewesen sein. Sie war dem Ernst der Lage aber nicht angemessen.
Wer diese Frage seriös und ohne Rückgriff auf Verschwörungstheorien beantworten will, kommt an der folgenden explanatorischen Heuristik, die als »Hanlons Rasiermesser« bekannt ist, nicht vorbei: »Schreibe niemals der Bösartigkeit zu, was durch Dummheit angemessen erklärt wird.« »Dummheit« meint hier nicht etwa einen niedrigen Intelligenzquotienten oder mangelndes Wissen, sondern verbreitete Denkfehler, die in der psychologischen Forschung mittlerweile ausführlich dokumentiert sind. Uns scheint, solche Denkfehler haben Entscheidungsträger in der westlichen Welt im Umgang mit Covid-19 fehlgeleitet. Das ist nur menschlich. Doch ist es deshalb nicht weniger gefährlich.
Die Anzahl der Seerosen auf einem Teich verdoppelt sich jeden Tag. Am 48. Tag ist der Teich vollständig mit Seerosen bedeckt. An welchem Tag war er halb bedeckt?
196 Virusträger reichen rechnerisch aus, um bei einer Verdopplung der Infizierten alle 2,5 Tage (und mit diesem Wert hätte er schon damals kalkulieren müssen) in etwa zwei Monaten die gesamte Weltbevölkerung zu durchseuchen.
Wer eine Krise wie die gegenwärtige noch nicht erlebt hat, dem fällt es nicht leicht, sie kognitiv und emotional vorwegzunehmen – auch wenn starke Evidenz existiert, dass die Krise wirklich droht. Die Covid-19-Epidemie passt schlicht nicht zu dem, was wir aus unserer Lebenswelt kennen. Und aus diesem Grunde taugen unsere direkten Erfahrungen nicht als Kompass, um einschätzen zu können, was wir in einer Situation wie der momentanen erwarten sollten. Dazu müssen wir erst unsere Vorstellungskraft bemühen, und wir müssen dies aktiv tun, uns also auch in gedankliche Räume vortasten, mit denen wir bisher keine Erfahrungen gemacht haben.
Sicherlich erklärt ein Mangel an Vorstellungskraft einen Teil der Fehlurteile, die unserer Gesellschaft im Umgang mit Covid-19 unterlaufen sind. Ihrem Charakter nach handelt es sich hier um eine spezielle Variante eines Einseitigkeitsfehlschlusses, der manchmal als Truthahn-Fehlschluss bezeichnet wird:
Sogar die zuständigen Seuchenschützer, allen voran Lothar Wieler, konnten sich offenbar keine Vorstellung davon machen, dass eine Epidemie solchen Ausmaßes uns tatsächlich ereilen könnte. Die Geschichte zeigt zwar, dass Ereignisse dieser Art möglich sind. Aber die Vorstellungskraft ist doch durch den eigenen Erfahrungshorizont limitiert.
Experten unterliegen nicht selten den gleichen Denkfehlern wie Laien und sind sich dessen häufig ebenso wenig bewusst.
Catch-22 der Prävention: das Problem, dass auch rational erforderliche Präventionsarbeit überflüssig oder mangelhaft erscheinen kann. Solange kein Schaden eintritt, erscheint die Prävention überflüssig; falls dennoch ein Schaden eintritt, erscheint sie mangelhaft, selbst wenn sie völlig angemessen war.
Mit dem Versuch, Schadensszenarien vorzubeugen und abzuwenden, ist ebenfalls ein Catch-22 verbunden: Typischerweise bekommt man für Präventionsarbeit weder Lob noch Dank. Denn wenn ein Schaden eintritt, war die Prävention offenbar schlecht oder nicht wirksam genug. Passiert dagegen nichts, dann hätte man sich die Mühe sparen können, weil am Ende ja nichts passiert ist. Präventionsarbeit erscheint also immer entweder schlecht oder überflüssig.
Das Hedging-Prinzip gebietet es daher, hier der Minderheit der Experten zu folgen und nicht der Mehrheit. Diese zunächst paradox erscheinende Schlussfolgerung ist für den Katastrophenkontext charakteristisch.
Doch wenn viele Menschen auf den Catch-22 der Prävention hereinfallen, dann kann es für Politik, Behörden und nicht zuletzt die wissenschaftliche Experten-Gemeinschaft (zumindest partiell) rational sein, sich nicht für Präventionsmaßnahmen einzusetzen, obwohl diese angezeigt wären. In solchen Situationen haben wir es gewissermaßen mit rationaler Irrationalität zu tun, d. h. einer irrationalen sachlichen Haltung, die aber aufgrund rationaler Motive vertreten wird.
Die jährliche Grippewelle verteilt sich aufgrund der vorhandenen Herdenimmunität über einen längeren Zeitraum und erfasst nur rund 10 % der Bevölkerung. Eine ungebremste Covid-19-Epidemie würde sich aufgrund des fehlenden Herdenschutzes hingegen auf wenige Monate verteilen, in denen sich zwei Drittel der Bevölkerung infizieren. Hunderttausende Intensivpatienten könnten dann nicht mehr versorgt werden. Entsprechend würde sich eine solche Epidemie viel tödlicher auswirken, selbst wenn die Letalität von Covid-19 unter sonst gleichen Umständen derjenigen der saisonalen Grippe entsprechen sollte.
Das Hedging-Prinzip verbietet es aber, von einseitig optimistischen Annahmen auszugehen.
In der Frage, was genau nun den Tatsachen entspricht, finden die beiden Lager keinen Konsens. Spätestens an dieser Stelle muss – für beide Lager gleichermaßen – die Frage aufkommen: Was, wenn wir falsch liegen? Wie sieht die Risikoabwägung aus, und wie können wir uns bestmöglich absichern? Statt weiter über die Tatsachen zu streiten, wäre der Blick auf die bestehende Unsicherheit und die gesellschaftlich-praktische Entscheidungssituation zu richten.
Entscheidungsmatrix
Ist die drohende Katastrophe hinreichend verheerend, könnte dies auch dann noch gelten, wenn auf das »katastrophale Schadenspotential« eine Wahrscheinlichkeit von lediglich 1 % oder weniger entfällt. Mit anderen Worten: Wir mögen geneigt sein, die wahrscheinlichsten Szenarien besonders zu beachten. Mindestens so wichtig ist es aber, den Blick auf die schlimmsten Szenarien zu richten, selbst wenn ihre Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist.
Im Einzelfall ist es an unserer Vorstellungs- und Urteilskraft, zu prüfen, welche Risikowerte wir im Rahmen einer kohärenten Risikopraxis verantworten können. Entscheidungsmatrizen liefern uns eine Hilfestellung bei der Konzeptualisierung der zu beurteilenden Entscheidungssituation.
Abschließend wollen wir die zentralen normativen Überlegungen, die wir zur Philosophie in Echtzeit vorgebracht bzw. angewandt haben, noch einmal auf den Punkt bringen.
- Vermeide es, in Echtzeit philosophieren zu müssen. Denke lieber auf Vorrat. Ideale Philosophie und Wissenschaft benötigt Zeit zum Nachdenken und qualitativ möglichst hochwertige Informationen. Wir sollten es deshalb vermeiden, mit kurzen Deadlines philosophieren zu müssen, weil dann Zeit und eventuell auch hochwertiges Datenmaterial nicht in angemessener Weise zugänglich sind. Besonders im Kontext möglicher Katastrophen sind »philosophische Hamsterkäufe« sinnvoll. Hier sollten wir auf Vorrat denken, wenn dies möglich ist.
- Vermeide Philosophie und Wissenschaft in Echtzeit vor allem dort, wo viel auf dem Spiel steht. Naturgemäß nehmen Fragen, die mit Katastrophenrisiken zu tun haben, einen hohen Stellenwert ein.
- Diversifiziere Deinen Denkvorrat.
- Rufe auf Vorrat gedachtes Wissen regelmäßig ab und verbreite bzw. diversifiziere es über Köpfe, Orte und Institutionen.
- Sorge für den Fall vor, dass sich Philosophie in Echtzeit nicht vermeiden lässt. Triff individuelle und institutionelle Vorkehrungen, um Fehlerquellen auszuschalten.
- Sorge dafür, dass Informationen in Echtzeit zur Verfügung stehen.
- Gib der Praxis Vorrang.
- Versuche durch kluge Entscheidungen, möglichst viel Zeit zu gewinnen und möglichst viele Optionen offenzuhalten.
- »Triagiere« die philosophischen und wissenschaftlichen Fragestellungen bzw. setze Deine Kapazitäten möglichst gewinnbringend ein.
- Versuche, durch kluge Kooperationsformen komparative Vorteile zu nutzen.
Es ist an uns, die möglichen Katastrophen von morgen bereits heute zu erkennen – und uns gegen sie abzusichern. Am besten lassen wir sie gar nicht erst Realität werden.
Weitere Aussagen
Italienische Expats und Journalisten versuchen verzweifelt, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln. Auch wir engagieren uns mit kritischen Texten– zehn Tage lang erfolglos. Die Zeitungen im deutschen Sprachraum erteilen uns Absage um Absage. Unsere Prognose, die intensivmedizinischen Kapazitäten würden ohne Shutdown womöglich um ein Vielfaches überlastet, sei »zu alarmistisch«. Erst ab dem 10. März gelingt es uns, einige Artikel zu publizieren.
Die Kommunikation zwischen den europäischen Öffentlichkeiten erweist sich als erschreckend schwerfällig. Ein geeintes Europa muss all seinen Teilen und Teilnehmern in Echtzeit zuhören und antworten können. Auch das ist eine (epistemische, also die Erkenntnisfähigkeit betreffende) Vorsorge- und Solidaritätspflicht, gerade im Kontext drohender, und noch mehr: im Angesicht bereits laufender Katastrophen.
Es stellt sich auch die Frage, warum die tragische Fallstudie Norditaliens nötig war, die europäischen Gesellschaften wachzurütteln.
Das gilt zum Beispiel für philosophische Fragen in Bezug auf den Umgang mit aufkommenden Technologien, etwa der Künstlichen Intelligenz. Hier müssen wir Regeln für den Umgang mit absehbaren technologischen Entwicklungen finden, bevor die Einführung der Technologien Tatsachen geschaffen hat.
Im 20. Jahrhundert sind mit der Spanischen Grippe (1918– 1920), der Asiatischen Grippe (1957– 1958), der Hongkong-Grippe (1968– 1970) und der Russischen Grippe (1977– 1978) vier Influenza-Pandemien zu verzeichnen. Im frühen 21. Jahrhundert trat mit der Schweinegrippe (2009) eine weitere hinzu.
Hinzukommen diverse Ausbrüche der Pocken, die allein im 20. Jahrhundert schätzungsweise 300 Millionen Todesopfer forderten, also mehr als alle Kriege und Genozide des 20. Jahrhunderts zusammen. Das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) tötete seit 1980 etwa 36 Millionen Menschen.
Der Global Risk Report (2019) des World Economic Forum identifiziert in diesem Zusammenhang fünf wichtige Trends:
- Das globale Dorf: Mikrobiologische Krankheitserreger oder Pathogene können durch das enge Transportnetzwerk des internationalen Personen- und Warenverkehrs innerhalb von nur 36 Stunden an jeden beliebigen Ort der Welt gelangen.
- Die Urbanisierung: Der überwiegende Teil der Weltbevölkerung lebt heute in Städten. Die urbane Bevölkerungsdichte und die vergleichsweise schlechten hygienischen Bedingungen vieler Metropolen begünstigen die Verbreitung von Krankheitserregern.
- Die Entwaldung: Der weltweite Baumbestand ist in den letzten zwei Jahrzehnten rückläufig. Das begünstigt Epidemien, weil Wildtiere so aus ihren natürlichen Lebensumgebungen vertrieben werden und verstärkt Kontakt zu Menschen haben, was die Wahrscheinlichkeit zoonotischer Erkrankungen erhöht.
- Der Klimawandel: Nach Einschätzung der WHO kann der Klimawandel die Ausbreitung infektiöser Krankheiten aus mehreren Gründen begünstigen, etwa indem sich die klimatischen Bedingungen für die Ausbreitung bestimmter Krankheitserreger verbessern.
- Flucht und Vertreibung: Millionen Menschen fliehen weltweit vor Armut, Verfolgung, Krieg und Naturkatastrophen und sind dabei besonders anfällig für Infektionskrankheiten wie Masern, Malaria, Diarrhö und akute Atemwegserkrankungen.
Bill Gates, der sich wie erwähnt seit langem mit der Prävention von Pandemien auseinandersetzt, führte bereits vor fünf Jahren aus: »Wenn irgendetwas in den nächsten Jahrzehnten mehr als 10 Millionen Menschen umbringt, dann ist es sehr wahrscheinlich ein hochinfektiöses Virus und kein Krieg.«#
Im Rahmen einer Studie von 2007 zu den Spätfolgen der SARS-Pandemie des Jahres 2003 gaben über 40 % der befragten damaligen Patienten an, am chronischen Erschöpfungssyndrom zu leiden. Da SARS-CoV-2 dem ursprünglichen SARS-CoV ähnelt, besteht durchaus Grund zur Sorge, dass ähnliche gesundheitliche Schädigungen auch einem erheblichen Prozentsatz der Covid-19-Patienten drohen. Wir können damit festhalten, dass das Schadenspotential einer Covid-19-Pandemie bereits früh erkennbar war. Diese Tatsache ergibt sich bereits aus der deutlich höheren vermuteten Letalität von Covid-19 etwa im Vergleich mit der Schweinegrippe.
Südkorea und Taiwan haben durch eine risikoethisch sinnvolle Kombination von Maßnahmen vorgemacht, wie man der Praxis Vorrang geben kann. Andere Länder hätten die Möglichkeit gehabt, rechtzeitig aus den Erfahrungen dieser Länder zu lernen. Leider haben sie dies mehrheitlich nicht getan. Das gilt auch für Deutschland, da hier die südkoreanischen und taiwanesischen Maßnahmen nicht, nur teilweise oder stark verspätet umgesetzt wurden.
Jeder, der die Gefahr von Covid-19 aufgrund der anfänglich tiefen Fallzahlen für sehr gering oder gar vernachlässigbar hielt, ignorierte also die Wachstumsrate. Man kann vermuten, dass Ähnliches auch auf viele unserer Entscheidungsträger zutrifft.
Wollen wir uns epistemisch auf die Aussage eines Experten oder einer Expertin stützen, müssen wir sicherstellen, dass die Person die entsprechende Aussage tatsächlich getätigt hat; klären, ob sie überhaupt einen Expertenstatus für das jeweilige Feld besitzt; und prüfen, ob in der Expertengemeinschaft ein hinreichender Konsens über die jeweilige Frage besteht.
Die Tatsache, dass Expertinnen und Experten ihre Einschätzungen ändern, ist für sich genommen kein Grund, inhaltlich an der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen zu zweifeln. Zweifel sind jedoch angebracht, wenn ihre Sinneswandel andeuten, dass sie sich nicht strikt an der wissenschaftlichen Evidenz orientieren oder diese nicht vollständig zur Kenntnis genommen haben.
Wenn wir in Bezug auf die Schließung von Schulen Drosten und Wieler folgen und sie sich irren, dann verlieren wir über das epidemische Ausbruchsgeschehen womöglich irreversibel die Kontrolle. Von dieser Entscheidung könnten massive Schadensfolgen ausgehen. Orientieren wir uns hingegen an Kekulé, besteht der Schaden – wenn er sich irrt – höchstens darin, dass wir die Schulen während eines tolerablen Zeitraums unnötig geschlossen haben.
Wie es aufgrund der asymmetrischen Schadenspotentiale fahrlässig sein kann, der Expertenmehrheit statt einer Minderheit zu folgen, so ist es natürlich auch fahrlässig, die Expertengemeinschaft gar nicht vollständig zu konsultieren.
Sind wir uns gerade im Kontext der (drohenden) Katastrophe über die Relevanz eines Hedging-Prinzips hinreichend einig, so ist es möglich, trotz des wissenschaftlichen Dissenses einen praktischen Konsens zu erreichen.
Dass trotz der »Pandemiepläne« nicht einmal für das medizinische Personal ein hinreichender Maskenvorrat angelegt war?
Wenn unsere Wissenschaft in Echtzeit risikoethisch verantwortlich arbeiten soll, ist institutionell dafür zu sorgen, dass hochwertige Informationen möglichst schnell und umfassend zur Verfügung stehen.
Aus ethisch-praktischer Sicht zählt zunächst vor allem der Schutz menschlichen Lebens. Andere Länder – etwa Italien und Spanien – konnten diesen Schutz nicht gewährleisten, weil ihre intensivmedizinischen Kapazitäten überlastet wurden.
Hätten wir den Shutdown nicht eingeleitet oder noch länger zugewartet, wäre uns die Kontrolle über die epidemische Dynamik entglitten. Im schlimmsten Fall hätten wir während mehrerer Wochen machtlos zusehen müssen, wie Menschen sterben, die man unter normalen Umständen hätte retten können.
Nach Schätzungen des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung kostet der Shutdown die Gesellschaft pro Monat zwischen 4,3 und 7,5 % des Bruttoinlandsprodukts (150 bis 260 Milliarden Euro).
Da Delay das Ziel, menschliches Leben zu schützen, nicht hinreichend gewährleistet, erscheinen nur Cocooning und Containment als vertretbare Optionen.
Fakt ist, wie Nida-Rümelin betont, dass wir in unserer Gesellschaft bestimmte Risiken zulassen, um im Gegenzug bestimmte Vorteile realisieren zu können. Anders wäre beispielsweise die Institution des Straßenverkehrs gar nicht denkbar (jeder Teilnehmer geht im Straßenverkehr ein gewisses Risiko ein, verletzt oder im schlimmsten Fall sogar getötet zu werden). Dieser liegt jedoch, wenn man Pro und Kontra sieht, in unser aller Interesse. Schließlich retten Straßen, auf denen unter anderem Notarztwagen fahren können, auch Leben, sichern Wohlstand, etc.
Liegt bei einem Bürger eine gewisse Wahrscheinlichkeit einer Infektion vor – und das tut sie bei jedem, sobald das Virus außer Kontrolle geraten ist –, dann kann die ungehemmte Verbreitung durch soziale Kontakte und freie Bewegung im öffentlichen Raum womöglich plausibel als Rechtsverletzung interpretiert werden, und dies besonders, wenn dadurch direkt oder indirekt auch Risikogruppen gefährdet werden. Denn andere werden einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, infiziert zu werden und am Ende entsprechende gesundheitliche Schäden davonzutragen. Da es eine zentrale Aufgabe des Rechtsstaats ist, die Rechte seiner Bürger zu schützen, wäre dem Staat dann nicht nur erlaubt, die Bürger vor dieser Rechtsverletzung zu schützen, sondern er wäre sogar dazu verpflichtet. Auch eine Impfpflicht kann so zumindest angedacht werden. Wer sich nicht impfen lässt, müsste dann zumindest zu erkennen geben, dass er eine entsprechende Gefahr darstellt und ggf. bestimmte Einschränkungen hinnehmen.
Es erscheint aus drei Gründen sinnvoll, bis auf weiteres eine Reduktion der Infektionen zu versuchen, sofern sich diese Reduktion in eine kohärente Risikopraxis einbetten lässt: Erstens steht zu befürchten, dass eine allein auf den Schutz der Risikogruppen gerichtete Strategie ihr eigenes gesetztes Ziel verpasst. Dies legt zumindest eine Modellierungsstudie des Covid-19 Response Teams am Imperial College London nahe. Entsprechend der Studie lassen sich die Todesopfer durch besondere Schutzmaßnahmen für Risikogruppen nur um etwa die Hälfte reduzieren.
Der Shutdown fiel vor allem deswegen so drastisch aus, weil wir zu Beginn der Epidemie vergleichsweise wenig über das Virus wussten und kaum einschätzen konnten, wie effektiv die Maßnahmen sein würden. Je mehr wir jedoch über die Wirkung der beschlossenen Maßnahmen lernen, desto besser können wir einschätzen, was funktioniert und was nicht, und desto besser können wir überblicken, welche Risiken mit den entsprechenden Maßnahmen einhergehen und zu welchen ökonomischen, sozialen und ethischen Problemen sie vermutlich führen.
Dabei sollte gelten: Je ineffektiver, teurer, riskanter und ethisch problematischer eine Maßnahme ist, desto eher sollte sie rückabgewickelt werden, und je effektiver, günstiger, risikofreier und ethisch unproblematischer die Maßnahme ist, desto eher sollte sie beibehalten (bzw. neu eingeführt) werden.
Die Übertragung krankheitserregender Mikroorganismen – man spricht dabei von Zoonosen, d. h. von Krankheiten, die von Tier zu Mensch (und umgekehrt) übertragbar sind –, tritt besonders durch die Produktion und den Konsum von Fleisch vermehrt auf. Eine Zoonose kann deshalb besonders gefährlich sein, weil die Mikroorganismen dem menschlichen Immunsystem fremd sind.
Je mehr Tiere auf engem Raum gehalten werden, desto höher wird auch das kumulierte Risiko, dass virale Übertragungen stattfinden. Die Massentierhaltung verursacht den Tieren permanenten Stress, was ihr Immunsystem schwächt. Auch Viren, die ursprünglich von Wildtieren ausgingen, nehmen nicht selten einen Umweg über die Nutztiere, bevor sie auf den Menschen überspringen.
Viren haben eine kurze Generationszeit (also jene Zeit, bis sich eine neue Generation von Viren entwickelt hat), und bei einer großen Zahl von Infektionen ist Evolution im Zeitraffer zu beobachten. Je mehr Virus-Generationen in einer auf engstem Raum gehaltenen Tierpopulation entstehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich irgendwann eine Mutation durchsetzt, die eine Übertragung auf den Menschen ermöglicht.
Risikoanalysen haben nämlich aufgezeigt, dass erstaunlich wenige Wagen gehackt werden müssen, um die inneren Versorgungswege – etwa die medizinischen – einer Stadt wie New York City zu blockieren.
Auch hier gilt das Prinzip der Risikoabsicherung: Wir sollten uns ernsthaft darauf vorbereiten, dass KI-Risikoszenarien Realität werden – selbst dann, wenn wir ihre Eintrittswahrscheinlichkeit für gering halten.
Sollte uns die Formalisierung und algorithmische Implementierung ethischer Ziele nicht gelingen, droht uns womöglich ein Katastrophenszenario, wenn KIs übermenschliches Niveau erreichen. Schließlich spielt unsere eigene Spezies in der evolutionären Tierwelt vor allem deshalb eine dominante, nicht selten auch zerstörerische Rolle, weil sie über die am höchsten entwickelte Intelligenz verfügt.
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