Letzte Aktualisierung am 14. Dezember 2018.

Quelle: www.kophis.de

Im deutschen Forschungsprojekt KOPHIS wurde untersucht, wie die häusliche Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen auch in Schadenslagen sichergestellt werden kann. Das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart ging dabei der Frage nach, welche Akteure im Schadensfall an der Sicherstellung der ambulanten Versorgung beteiligt sind, welche Kooperationen bereits bestehen und welche sinnvoll wären. Der vorliegende Leitfaden richtet sich insbesondere an Landkreise, Kommunen, Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und ambulante Pflegedienste.

Münsterland 2005. Nach mehrtägigen, ungewöhnlich starken Schneefällen, stürmischen Windböen und Temperaturen um den Gefrierpunkt knicken Ende November 2005 50 Hochspannungsmasten um. In der Folge sind 250.000 Menschen in Teilen Nordrhein-Westfalens und Niedersachsens ohne Strom. In den am stärksten betroffenen Regionen sind nach vier Tagen immer noch 20.000 Menschen vom Strom abgeschnitten. Es sind 3.000 Einsatzkräfte des Katastrophenschutzes vor Ort, um Hilfe für die Bevölkerung zu leisten und die Infrastruktur wiederherzustellen. Darunter sind auch Einsatzkräfte aus anderen Bundesländern, die Amtshilfe leisten.

Extreme Wetterereignisse wie der Münsterländer Wintersturm werden in Deutschland und weltweit immer wieder beobachtet. Bedingt durch den Klimawandel wird sich die Situation jedoch noch weiter verschärfen: Mit der Erderwärmung und dem erhöhten Energieinhalt in der Erdatmosphäre steigt „das Potential für extreme Wetterereignisse. Derartige Schadensereignisse können gravierenden ökonomischen Schaden in der betroffenen Region verursachen, kritische Infrastrukturen (wie z. B. Strom- und Wasserversorgung, Krankenhäuser, Informations- und Kommunikationsnetze) schädigen und die Sicherheit, die körperliche Unversehrtheit und das Leben der Bürgerinnen und Bürger gefährden. Insbesondere vulnerable Gruppen wie Kleinkinder, Hochschwangere und pflege- und hilfsbedürftige Personen sind vom Zusammenbruch relevanter Infrastrukturen in ihrer Versorgung bedroht. Bedingt durch den demografischen Wandel nimmt die letztgenannte Gruppe zu: die Zahl der älteren und hochaltrigen Menschen in unserer Gesellschaft steigt und damit auch die Zahl der Pflegebedürftigen.

Um den staatlichen Schutzpflichten auch in einer alternden Gesellschaft bestmöglich nachzukommen, müssen wirksame Strategien zur Sicherstellung der Versorgung entwickelt werden, die die Normalbevölkerung ebenso in den Blick nehmen wie tendenziell vulnerable Gruppen wie z. B. pflege- und hilfsbedürftige Menschen, die bereits im Alltag, erst recht aber im Fall eines extremen Unwetters für die (pflegerische) Versorgung auf Unterstützung angewiesen sind.

Das Verbundprojekt KOPHIS („Kontexte von Pflege- und Hilfsbedürftigen stärken“) hat untersucht, wie die häusliche Versorgung von pflege- und hilfsbedürftigen Menschen auch in Schadenslagen sichergestellt werden kann. Im Projekt ging das Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart der Frage nach, welche Akteure im Schadensfall an der Sicherstellung der ambulanten Versorgung beteiligt sind, welche Kooperationen bereits bestehen und welche sinnvoll wären. Dazu wurden Interviews mit Vertreterinnen und Vertretern des Katastrophenschutzes, der Pflege, der kommunalen Verwaltung sowie mit Angehörigen und Betroffenen in Hessen von September 2016 bis Februar 2017 durchgeführt.

Der vorliegende Leitfaden stellt die Ergebnisse und Erkenntnisse aus den Recherchen und Interviews dar und hat zum Ziel, die zwei Sphären des Katastrophenschutzes und des Sozialen bzw. der Pflege einander näher zu bringen, die Netzwerkbildung zwischen ihnen zu unterstützen und Anregungen zu geben, wie die ambulante Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen gemeinsam sichergestellt werden kann. Der Leitfaden richtet sich insbesondere an Vertreterinnen und Vertreter der Landkreise/Bezirke und Kommunen (Bürgermeister), Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und ambulante Pflegedienste.

Das Szenario: Wintersturm mit Stromausfall

Das Forschungsprojekt KOPHIS geht vom Szenario Wintersturm mit mehrtägigem Stromausfall aus, ähnlich wie es 2005 im Münsterland geschehen ist. Der vorliegende Leitfaden und die darin vorgestellten Empfehlungen wurden für dieses Szenario entwickelt, können jedoch auch auf andere Schadensereignisse wie z. B. Hochwasser, Überflutungen oder Sturmschäden übertragen werden.

Szenario

Im November kommt es im Norden Baden-Württembergs, in Hessen und in Rheinland-Pfalz wiederholt und tagelang zu ungewöhnlich starken Schneefällen und stürmischen Windböen. Der Straßenverkehr ist durch schlechte Sicht, Glätte, Staus und gesperrte Zufahrtswege stark eingeschränkt, zum Teil sind ganze Ortschaften von der Außenwelt abgeschnitten. Am vierten Tag des Unwetters brechen zudem Strom- und Versorgungsmasten unter der ungewöhnlichen Last zusammen; tausende Menschen in der Region sind ohne Strom. Die Wohnungen und Häuser der vom Stromausfall Betroffenen kühlen aus.

Ein mehrtägiger Stromausfall stellt in Deutschland kein abwegiges Szenario dar, ganz im Gegenteil: durch die Energiewende sind die Netze verstärkt für Störungen anfällig. Das Hessische Ministerium des Inneren und für Sport hat auch aufgrund der Erfahrungen im Münsterland eine Rahmenempfehlung zur Einsatzplanung des Brand- und Katastrophenschutzes bei flächendeckendem, langandauerndem Stromausfall (Hessisches Ministerium des Innern und für Sport o. J.) erstellt. Darin werden u. a. die Konsequenzen eines solchen Stromausfalls im Zeitverlauf sowie die Herausforderungen aufgezeigt, mit denen Personen in häuslicher Pflege konfrontiert sind. Die folgenden Tabellen geben eine Übersicht.

Das geschilderte Szenario kann zu folgender Situation führen:

Katastrophenschutz:

  • muss eigene sowie öffentliche Infrastruktur aufrechterhalten bzw. wiederherstellen und die allgemeine Bevölkerung so weit wie möglich notversorgen;
  • teilweise liegt eine eigene Betroffenheit bei den Einsatzkräften vor;
  • kennt die spezifischen Bedarfe bestimmter Personengruppen (z. B. Pflegebedürftige) sowie ihren Aufenthaltsort nicht;
  • kann nur bedingt individuelle Hilfe leisten.

Pflege- und Hilfsbedürftige:

  • sind oftmals bereits im Alltag auf Hilfe angewiesen;
  • sind u. U. in besonderem Maß von der Katastrophe betroffen und benötigen Unterstützung;
  • sobald die technischen Kommunikationsmöglichkeiten wegbrechen, ist u. U. keine Kontaktaufnahme mit der Familie oder dem Pflegedienst mehr möglich;
  • immobile Personen können nicht auf eigene Faust das Haus verlassen und Hilfe holen.

Angehörige und ambulante Pflegedienste:

  • können erkennen, ob ihre Angehörigen bzw. Kunden weiterhin wie im Alltag versorgt werden können oder nicht;
  • können ggf. weitere Unterstützung in der Familie, bei Nachbarn oder anderen Helfern organisieren;
  • kann bei Bedarf keine zusätzliche Unterstützung aus dem Sozialraum organisiert werden, ist die Versorgung der Betroffenen gefährdet;
  • sind u. U. selbst vom Schadensereignis betroffen.

Auswirkungen eines Stromausfalls auf die allgemeine Versorgung

Auswirkungen eines Stromausfalls auf die allgemeine Versorgung

Folgen für Privathaushalte

Folgen für Privathaushalte

Folgen für die häusliche Pflege

Folgen für die häusliche Pflege

Darüber hinaus kommen in der Praxis noch folgende Herausforderungen hinzu:

  • der Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen, die zu Hause leben, erst recht nicht in Schadenslagen.
  • Pflegebedürftige Menschen sind je nach Art von Pflege- und Hilfsbedürftigkeit sowie von vorhandenen Unterstützungsmöglichkeiten im unmittelbaren Umfeld (z. B. durch Familie, Nachbarn, Freunde, professionelle Pflegekräfte, etc.) unterschiedlich von einem längerfristigen Stromausfall betroffen. Ob in einer Schadenslage Hilfe von außen benötigt wird und wie diese gestaltet sein muss, ist also individuell stark verschieden (siehe dazu auch Exkurs im Kapitel 6).
  • Die Einrichtungen des Katastrophenschutzes und der Pflege(beratung) haben im Alltag kaum Berührungspunkte miteinander. Persönliche Kontakte und Kenntnisse des jeweils anderen Bereichs sowie der Abläufe können folglich nicht vorausgesetzt werden.
  • Dem Katastrophenschutz in Deutschland liegen keine Daten vor, wo pflege- und hilfsbedürftige Menschen leben und welche Art der Unterstützung sie benötigen. Es ist aus mehreren Gründen (Erfahrungen während des Nationalsozialismus, Ressourcenaufwand für Aktualisierung, Datenschutz) derzeit nicht zu erwarten, dass eine solche Datenbank in Deutschland auf absehbare Zeit zur Verfügung stehen wird.
  • Der Katastrophenschutz in Deutschland ist je nach Bundesland unterschiedlich strukturiert. Dies erschwert es Außenstehenden wie z. B. aus der Pflege und der kommunalen Sozialverwaltung, mit Hilfe eines deutschlandweit einheitlichen Leitfadens o. Ä. schnell den richtigen Ansprechpartner zu identifizieren.
  • Auch die Aufbauorganisation in den Kommunen und Landkreisen sind im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung nicht deutschlandweit einheitlich geregelt. Abteilungen und Bereiche können entsprechend unterschiedlich zugeschnitten sein und ihre Bezeichnungen abweichen. Auch dies erschwert es Außenstehenden, schnell die zuständige Stelle zu identifizieren.
  • Kommunen und Landkreise sind eigenständige Gebietskörperschaften, die zueinander in einem partnerschaftlichen Verhältnis stehen. Fallen Aufgaben zwischen einzelnen Kommunen an (z. B. Abfallwirtschaft) oder die einzelne Kommune ist zu klein, um eine bestimmte Aufgabe zu erledigen, kann der Landkreis diese Aufgaben übernehmen. Im Fall des Katastrophenschutzes wurde die Aufgabe auf die Landkreise übertragen. Dies ist in der Daseinsvorsorge im Allgemeinen und in der Senioren- und Pflegeberatung im Speziellen nicht grundsätzlich der Fall. D. h. die Zuständigkeit liegt bei den Kommunen selbst. Für die ambulante Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen ergibt sich dabei die Herausforderung, dass der auf Landkreisebene organisierte Katastrophenschutz mit der kommunal organisierten Sozialverwaltung kooperieren muss und die Strukturen jeweils unterschiedlich gestaltet sind.
  • In der Pflegeberatung ist eine Vielzahl von Akteuren tätig, die auch in der Schadenslage eine zentrale Rolle einnehmen (können). Deren Zuordnung, Tätigkeitsprofil und Benennung können sich jedoch je nach Bundesland, Verwaltungsstruktur und finanzieller Ausstattung von Kommune zu Kommune unterscheiden. Dies erschwert es Außenstehenden wie z. B. dem Katastrophenschutz, schnell den richtigen Ansprechpartner zu identifizieren.

Die im Projekt durchgeführten Recherchen haben gezeigt, dass an der pflegerischen und medizinischen Versorgung von Pflege- oder Hilfsbedürftigen sowie im Katastrophenschutz eine Vielzahl von Akteuren beteiligt ist und damit für das Szenario Wintersturm mit langanhaltendem Stromausfall grundsätzlich relevant sein können.

Relevante Akteure

Akteursgruppen Pflegeversorgung
Potentiell relevante Akteure bei der Sicherstellung der ambulanten Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen

Notfallplanung: Herausforderungen in der Zusammenarbeit vorausschauend begegnen

Um die Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen sicherzustellen, sind die erfolgreiche Netzwerkbildung zwischen den genannten Akteuren bereits im Alltag und die Zusammenarbeit in der Krise kritische Erfolgsfaktoren. Damit die Zusammenarbeit in der Praxis tatsächlich gelingt, bedarf es also einer entsprechenden Vorbereitung. Idealerweise erstellen die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben gemeinsam mit der kommunalen Sozialverwaltung als zentralem Akteur an der Schnittstelle zwischen Behörden und sozialem Nahraum einen Notfallplan, der auch die folgenden Herausforderungen berücksichtigt. Sofern bereits Notfallpläne bestehen, sollten diese um den Bereich der Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen ergänzt werden:

  • Fachberatung Pflege: Welche Person bzw. Institution übernimmt diese Funktion im Krisenfall? Wie kann diese Person erreicht werden? Wie kann die Weiterbildung und Qualifikation der Person im Bereich Katastrophenschutz und kommunale Sozialverwaltung bzw. Pflege sichergestellt werden?
  • Erreichbarkeit von Verantwortlichen: Wie kann die Erreichbarkeit von Verantwortlichen in der kommunalen Sozialverwaltung, bei Pflegekassen und ggf. bei Pflegediensten für die Katastrophenschutzbehörden auch außerhalb der Öffnungszeiten und am Wochenende sichergestellt werden? Wer ist der Ansprechpartner für die Behörden? Bestehende Notfallplanungen des Landkreises sollten um die Erreichbarkeit dieser Akteure ergänzt werden.
  • Klare Aufgabenverteilung und Zuständigkeiten: Was ist die konkrete Rolle und Aufgabe der kommunalen Sozialverwaltung in der Schadenslage? Und welche vorbereitenden Maßnahmen erfordert dies? Sind diese Maßnahmen auch unter dem Gesichtspunkt knapper personeller Ressourcen leistbar?
  • Weitergabe von Informationen: Welche Informationen in Bezug auf die betroffenen Pflege- und Hilfsbedürftigen sollen und können die Pflegedienste und die Akteure des Sozialraums an die kommunale Sozialverwaltung und an die Katastrophenschutzbehörden weitergeben, wann, wie und in welcher Art und Weise? Hier gilt es, die aktuellen Datenschutzbestimmungen zu personenbeziehbaren Daten sowie ethische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zudem ist darauf zu achten, wie Dopplungen (z. B. Informationen zu Bedarfen von ein und demselben Betroffenen aus verschiedenen Quellen) erkannt und vermieden werden können.
  • Dynamische Lageentwicklung und Ressourcenbedarf: Die Lage entwickelt sich kontinuierlich und ggf. kaum vorhersagbar. Daher ist darauf zu achten, dass der Kontakt mit betroffenen Pflege- und Hilfsbedürftigen wiederholt aufgenommen wird, um veränderte Bedarfe rechtzeitig zu erkennen. Dies erfordert entsprechende Ressourcen im sozialen Nahraum und bei den Pflegediensten sowie bei der kommunalen Sozialverwaltung. Im Notfallplan sollte aufgezeigt werden, wie dies geleistet werden kann.
  • Zeitlicher Verlauf: Der Aufbau der Strukturen des Verwaltungsstabs und der technischen Einsatzleitung benötigen einige Zeit. In dieser Zeit werden Betroffene, der soziale Nahraum und Pflegedienste bereits darum bemüht sein, die Versorgung von ihnen bekannten Pflege- und Hilfsbedürftigen aufrechtzuerhalten. Die koordinierenden Maßnahmen der kommunalen Sozialverwaltung und des Verwaltungsstabs sollten dies berücksichtigen bzw. gezielt anregen.

Praxis-Tipp

Es empfiehlt sich, die oben dargelegte Netzwerkkarte in den Notfallplan aufzunehmen und die konkreten Ansprechpartner samt Namen und Kontaktdaten in der jeweiligen Kommune zu hinterlegen.

Damit die Zusammenarbeit im Krisenfall gut eingespielt ist, empfiehlt es sich, gemeinsame und regelmäßige Übungen zwischen den BOS, der kommunalen Sozialverwaltung und ggf. den Pflegediensten zur Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen durchzuführen, die auf dem Notfallplan aufbauen.

Erkrankung / Situation

Erkrankung / Situation

Auswirkungen eines Versorgungsausfalls bei relevanten Erkrankungen

Auswirkungen eines Versorgungsausfalls bei relevanten Erkrankungen

Kommentar

Die Studienergebnisse unterstreichen einmal mehr die Brisanz des Themas “Gesundheits(not)versorgung nach einem Blackout” bzw. die im gleichnamigen Leitfadengetroffenen Ableitungen. Der geforderte sehr hohe Koordinierungsaufwand bereits im Vorfeld ist derzeit weitgehend nicht gegeben. Für viele Menschen wird es daher um Leben oder Tod, oder schwere gesundheitliche Folgen gehen.