Letzte Aktualisierung am 21. Oktober 2018.
Auszüge aus dem hervorragenden Buch von Ugo Bardis »Der Seneca-Effekt. Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können« Es ist zugleich der 42. Bericht an den Club of Rome und somit Teil jener Serie an Berichten, die im Jahr 1972 mit den »Grenzen des Wachstums« begann.
Wenn man sich mit dem Thema Komplexität intensiver beschäftigt, wird man hier viele Bestätigungen und Ergänzungen finden. Zugleich sind die Schlüsse jedoch auch bitter und manchmal wohl auch verstörend. Eine „Vogel-Strauß-Politik oder -Verhalten“ ändert jedoch nichts an der klaren Botschaft.
»Grenzen des Wachstums«
Die Hauptaussage der »Grenzen des Wachstums« war, dass »die Ausbeutung der wichtigsten Rohstoffe und die wachsende Belastung durch Umwelt- und Luftverschmutzung zunehmend steigende Risiken für die Weltwirtschaft in der Zukunft verursachen« würde. Viele verstanden den Bericht so, als würde die Weltwirtschaft innerhalb weniger Jahrzehnte zum Stillstand kommen. Dies war allerdings nicht die Aussage der »Grenzen des Wachstums«. Der Bericht stützte sich auf eine Perspektive von 50 bis 100 Jahren und legte darüber hinaus seinen Fokus auf die steigenden, physischen Auswirkungen des Wirtschaftswachstums – den ökologischen Fußabdruck – nicht auf Wachstum an sich. Tatsächlich ging es in diesem Buch in erster Linie darum, wie man Kollaps vermeiden und die Menschheit einen besseren, nachhaltigeren Weg für ihre Zukunft und die ihres Planeten einschlagen könnte. Der Club of Rome setzt sich bis heute genau dafür ein.
45 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Berichtes allerdings stellt sich die Frage danach, wie ökologische Krisen in der Zukunft verhindert werden können, leider nicht mehr. Heute geht es um die Frage, wie die Menschheit ihre Auswirkungen abschwächen und bewältigen kann. Die Vision der Mitglieder des Club of Rome bleibt nichtsdestotrotz dieselbe: eine bessere Zukunft für die Menschheit und den Planeten. »Den Feind zu kennen ist der beste Weg, ihn zu besiegen«, heißt es.
Gleichermaßen gilt: Um die Auswirkungen eines Kollapses zu bewältigen, muss man verstehen wie er entsteht, sich entwickelt und auswirkt. Probleme, die uns in der Zukunft erwarten, einfach zu ignorieren ist hingegen kein vielversprechender Lösungsansatz, um sie zu vermeiden. S. 9
Siehe auch “I hope for the best and prepare for the worst” und Die nächsten 20 Jahre werden mehr Veränderung bringen, als die letzten 100 Jahre
1956 stellte Hubbert die These auf, die Erdölproduktion der Welt müsse irgendwann in absehbarer Zukunft, vielleicht bereits im Jahr 2000, ihren Höhepunkt erreichen und dann abnehmen. Diese Vorhersage sorgte damals für weit verbreiteten Unglauben, obwohl wir heute sehen, dass sie annähernd korrekt war. S. 163
Vor diesem Hintergrund gründete der italienische Intellektuelle Aurelio Peccei (1908–1984) eine Organisation, die den Namen »Club of Rome« erhielt, eine Organisation, die sich mit der Zukunft der Menschheit beschäftigte und erforschte, was für eine bessere Zukunft getan werden könne. Wie aus Pecceis Schriften hervorgeht, verstanden anfangs weder er noch die anderen Mitglieder des Clubs das Problem des Overshoot und sie ahnten auch nicht, dass die Weltwirtschaft auf einen Kollaps zusteuerte. S. 164
Die Weltwirtschaft neigte zu irgendeinem Zeitpunkt im 21. Jahrhundert zum Kollaps. Für das Basisszenario der Grenzen des Wachstums dienten als Input die Daten, die am zuverlässigsten erschienen; auch wurde unterstellt, dass sich an der Weltpolitik und am menschlichen Verhalten nichts ändern würde. Es sah den Kollaps der industriellen und der landwirtschaftlichen Systeme für einen Zeitpunkt zwischen der zweiten und der dritten Dekade des 21. Jahrhunderts kommen. Einige Jahrzehnte danach würde die Bevölkerung aufhören zu wachsen und allmählich abnehmen. Optimistischere Annahmen zur Verfügbarkeit von Ressourcen und zum technischen Fortschritt lieferten Szenarien, in denen der Kollaps aufgeschoben werden kann, aber das Endergebnis war immer das gleiche: Der Kollaps ist nicht zu vermeiden. Es war auch möglich, die Parameter des Modells so zu verändern, dass in der Simulation der Übergang zu einer Wirtschaft des langfristigen Gleichgewichts (Steady-StateÖkonomie) stattfindet und der Kollaps vermieden wird. Überträgt man diese Parameter aber auf die reale Welt, wäre dafür eine Politik erforderlich, die völlig konträr zur Schulweisheit der Ökonomen läuft, weil sie dem Wirtschaftswachstum ein Ende setzt. Die Weltmodellierung ergab, dass ein Seneca-Kollaps voraussichtlich innerhalb von 50 Jahren eintreten würde. Diese Prognose hatte auf die allgemein anerkannte Weltanschauung einen ähnlichen Effekt wie die Nachricht von der Landung einer fliegenden Untertasse auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington, aus der kleine grüne Männchen mit Strahlenpistolen strömen. Die Legende, die Studie sei von Anfang an als offensichtlicher Schwindel verlacht worden, hält sich hartnäckig, aber sie ist falsch. S. 165f.
Der Kern des Modells, das in der Studie Die Grenzen des Wachstums von 1972 verwendet wurde, hieß »Welt 3« und es kommt noch heute in abgewandelten Varianten zum Einsatz. Es geht von fünf Hauptelementen oder »Beständen« im Weltsystem aus. Diese sind: 1. natürliche Ressourcen, 2. Landwirtschaft, 3. Bevölkerung, 4. Kapital, 5. Umweltverschmutzung. Qualitativ gesehen, unterscheiden sich die inneren Mechanismen des Modells nicht wesentlich von denen eines schlichten Räuber-Beute-Modells. S. 167
Die Tatsache, dass erneuerbare Ressourcen eine Tragfähigkeit größer als null haben, ändert innerhalb des Modells nicht viel, weil sie so schnell ausgebeutet werden, dass keine Zeit bleibt, um die Bestände durch natürliche Prozesse aufzufüllen. S. 168
Dem System fehlen die nötigen Energieressourcen, um seine Netzwerkstruktur aufrechtzuerhalten, sodass es eine bestimmte Zahl von Knoten und Verbindungen eliminieren muss; es kann sich diese einfach nicht mehr leisten. Das Ergebnis ist eine rapide Reduktion der Komplexität, die wir »Kollaps« nennen, eine weitere Manifestation des Seneca-Effekts. S. 170
Man beachte, dass der Bestand mit der Bezeichnung »Umweltverschmutzung« auch als Parallele zu den aufgeblähten Bürokratie- und Militärsystemen gesehen werden kann, wie sie alle versinkenden Imperien belasten. S. 171
Wir sehen, wie komplexe Systeme durch ein Gewirr von Rückkopplungen getrieben sind, abhängig von der relativen Größe der Bestände, wobei der eine oder andere Faktor bei der Auslösung des Kollaps’ im Vordergrund steht. Aber man darf nicht vergessen, dass komplexe Systeme zwar meist einen komplexen Zusammenbruch erleiden, dass aber die letztendliche Ursache stets die Verknappung eines physischen Faktors ist, seien es natürliche Ressourcen oder die Fähigkeit des Systems, Umweltverschmutzung zu absorbieren. S. 171
Siehe auch Die nächsten 20 Jahre werden mehr Veränderung bringen, als die letzten 100 Jahre
Wie können wir also die Aussagekraft der Studie über die Grenzen des Wachstums fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen beurteilen? Die Autoren haben stets unterstrichen, dass es sich bei ihren Ergebnissen um Szenarien handelt, nicht um Vorhersagen (und ganz sicher nicht um Prophezeiungen). Zutreffend ist aber auch, dass alle Szenarien dieselben Trends für dieselben Anfangsannahmen aufzeigten und dass weltweit kein Versuch unternommen wurde, das Wachstum der Weltwirtschaft zu bremsen, das die Hauptursache für die Überlastung und den Zusammenbruch des Systems darstellt. Es bleiben uns also nur jene Szenarien, die auf der Annahme basieren, dass die Ressourcen der Welt »weiter so wie bisher« verwaltet werden. Und all diese Szenarien zeigen den Zusammenbruch der Weltwirtschaft und der Bevölkerung für einen Zeitpunkt im 21. Jahrhundert.
Unter diesen Szenarien deutet das Basisszenario auf einen globalen Kollaps im Bereich zwischen 2015 und 2025. Wir befinden uns also bereits in dem Zeitraum, in dem der Beginn des Zusammenbruchs zu erwarten wäre. Und wenn er einträte, erwiese sich das Szenario der Basiskalkulation als wahr gewordene Prophezeiung. Tatsächlich verweisen ominöse Anzeichen einer Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums darauf, dass sich ein Kollaps anbahnen könnte. Aber zutreffend ist auch, dass die Weltwirtschaft weiterhin wächst und die Produktion der meisten mineralischen Rohstoffe zunimmt, während zugleich die Bevölkerungszahlen steigen. Kurz gesagt, wir können nicht sicher beurteilen, ob wir am Rande des Zusammenbruchs stehen oder nicht, aber es ist gut möglich.
Der wohl aussagekräftigste Indikator dafür, dass im globalisierten Staat etwas faul ist, ist der schrittweise Zusammenbruch mehrerer einst reicher Länder. Die Ergebnisse der Grenzen des Wachstums betreffen den Durchschnittswert der ganzen Welt, aber es wäre erstaunlich, wenn der Kollaps überall gleichzeitig einsetzen würde, statt in den wirtschaftlich schwachen Regionen seinen Anfang zu nehmen. Genau das beobachten wir.
Ein Hinweis ist die Katastrophe, die mehrere Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens heimsucht und die allem Anschein nach aus zwei Faktoren resultiert, nämlich Verknappung und Umweltverschmutzung in Gestalt des Klimawandels. Beispielhaft ist Syrien, wo die Erdölproduktion 1996 ihren Höhepunkt erreichte und dann allmählich abfiel. Als um 2010 die nationale Produktion auf dem Niveau des Verbrauchs angelangt war, verlor die syrische Wirtschaft die Erlöse aus dem Erdölexport; die Folge war der Ausbruch des Bürgerkriegs. Die syrische Wirtschaft wurde zudem durch eine anhaltende Dürre schwer geschädigt, welche die heimische Landwirtschaft nahezu ausgelöscht hat, was man dem Klimawandel zuschreiben könnte. Der Fall Syrien zeigt uns, dass die Seneca-Klippe, die auf den Höhepunkt folgt, kein weicher Rückgang ist, wie das Modell ihn zeigt, sondern eine ziemlich holprige Talfahrt, die von Kriegen und sozialen Unruhen begleitet wird. S. 173f
Selbst in den schwierigsten Momenten behaupten Politiker und Regierungsberater, man müsse das »Wachstum wieder ankurbeln«, um sämtliche wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Sie erkennen nicht, dass Wachstum genau der Grund für das Dilemma ist, vor dem wir stehen: Wachstum verursacht Überlastung und Überlastung führt zum Zusammenbruch. S. 175
Wir bewegen uns also mit Vollgas auf den raschen Ruin zu, vor dem uns Seneca warnt. S. 175
So behaupteten die Walfänger im 19. Jahrhundert hartnäckig, ihre Arbeit werde immer schwieriger, nicht etwa, weil Wale bis kurz vor dem Aussterben gejagt wurden, sondern weil sie »scheu geworden sind«. Die Haltung des chilenischen Fischers passt hier ebenso ins Bild: Die Leugnung wird zur Fassade und ermöglicht es, sich nicht mit Alternativen beschäftigen zu müssen. Sie allein lässt es am Ende möglich werden, dass er so weitermacht wie bisher. Dieses selbstzerstörerische Verhalten ist nicht untypisch für uns Menschen. Als Spezies haben wir uns so entwickelt, dass wir jede sich bietende Gelegenheit nutzen; sorgfältig und langfristig zu planen, hat dabei seit jeher wenig Raum. Diese genetische Konstellation entsprach den Bedürfnissen der Jäger und Sammler in den Stammesgesellschaften, deren Aufgabe darin bestand, möglichst viel Beute nach Hause zu bringen. In einer Epoche, in der die Technik dem Menschen die Mittel an die Hand gibt, Ressourcen schneller auszubeuten, als sie sich regenerieren können oder nachwachsen, hat diese genetische Konstellation keinen Sinn mehr. Und doch verfügt der Mensch – angeblich – über die Fähigkeit des logischen Denkens. Wie also kommt es, dass er diese Fähigkeit nicht auch nutzt? S. 198
Vielleicht ist die Ursache dafür das Syndrom des »Spielerfehlschlusses«: die Unfähigkeit, Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen. Viele Spieler glauben, dass zufällige Ereignisse, etwa die Zahlen, auf die die Roulettekugel fällt, miteinander in Beziehung stehen, was in Wirklichkeit natürlich nicht der Fall ist. S. 198f
Ähnliches müssen wir leider auch bei unserer Abhängigkeit von den lebenswichtigen Infrastrukturen bzw. bei der Ignoranz des Szenarios Blackout beobachten.
Einstellungen lassen sich nur schwer verändern. … . Doch Utopien, die in die Praxis umgesetzt werden, erliegen meist einem Seneca-Ruin. In der Regel scheitern sie, weil die Gier und die Selbstsucht der Menschen nicht auszulöschen sind, mögen die Ideale der utopischen Gesellschaft noch so edel sein. Daraus folgt, dass der Kampf gegen den Raubbau wahrscheinlich aussichtslos ist, wenn wir allein darauf setzen, die Menschheit davon zu überzeugen, ihr törichtes Verhalten abzulegen. S. 200
Privatisierung zerstört das Netz miteinander in Wechselwirkung stehender Menschen (Hardins Viehhüter) und macht sie zu vereinzelten Wirtschaftsakteuren, die ihrer Arbeit nachgehen können, ohne mit anderen interagieren zu müssen. S. 200
Weder sind wir autark noch lassen sich komplexe Systeme (mit nichtlinearen Rückkopplungen und verzögerten Reaktionen!) vollständig kontrollieren, schon gar nicht durch Einzelne. S. 201
Möglicherweise bedarf es dazu aber drastischer Ereignisse, etwa den Kollaps unserer globalisierten Wirtschaft, die dann durch kleinere, zum Teil autarke ökonomische Einheiten ersetzt wird. Eine derartige ReLokalisierung wäre keineswegs unmöglich zu erreichen; es scheint gegenwärtig sogar ein Trend zu sein, sich auf lokaler Ebene zusammenzutun. Wir haben es also in der Hand, ob wir den Wandel gestalten wollen oder ob uns der Raubbau an unseren Ressourcen und ein unvermeidbarer Seneca-Kollaps zwingen werden, umzusteuern – dann wird es allerdings weh tun. Natürlich hat eine solche Weigerung, einer Veränderung zu widerstehen, nicht wirklich viel mit »Resilienz« zu tun; S. 204
»Der Seneca-Effekt«
»Der Seneca-Effekt« beschreibt praxisgerechte Wege und Lösungen, wie man Kollapse in komplexen Systemen vermeiden oder zumindest bewältigen kann. In bestimmten Fällen kann dies geschehen, indem die Bindeglieder, die ein System zusammenhalten, verstärkt werden. In anderen Fällen, indem man das System externe Schocks absorbieren lässt – und dabei innere Parameter verändert, anstatt sie zu erhalten. Und für den Fall, dass ein Kollaps unvermeidlich ist, zeigt dieses Buch auf, wie man ihn nutzen kann, anstatt sich ihm zu widersetzen, wenn der einzige Weg, um das Alte loszuwerden, das Schaffen von Raum für das Neue ist [„Schöpferische Zerstörung“]. S. 10
Seneca verstand die Notwendigkeit Veränderung und Wandel zu akzeptieren – anstatt sich in einem aussichtslosen Kampf gegen sie zu wehren. Dies ist der Grundsatz der stoischen Philosophie, frei nach Epiktet: »Was also ist zu tun? Das Beste machen aus dem, was in deiner Macht steht und den Rest so nehmen, wie er natürlich passiert.« (Discourses, 1. Januar 2017) S. 10f
Wenn man weiß, was Zusammenbrüche sind, werden sie nicht mehr überraschen und können verhindert werden. Man kann sie möglicherweise bewältigen und sogar zum eigenen Vorteil wenden. Im Universum ist ein Kollaps kein Defizit, sondern eine Eigenschaft. S. 12
Demnach sind allen Zusammenbrüchen bestimmte Eigenschaften gemeinsam. Es sind stets kollektive Phänomene, das heißt, sie treten nur in sogenannten komplexen Systemen auf, also in Netzstrukturen aus »Knoten«, die durch Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Ein Kollaps ist die rasche Umstrukturierung einer großen Zahl solcher Verknüpfungen, unter Umständen auch ihr Zusammenbruch und Verschwinden. S. 13
All diese Systeme haben vieles gemeinsam, vor allem ein nichtlineares Verhalten, das heißt, sie reagieren nicht proportional zur Stärke einer Störung von außen (eines »Antriebs« oder »forcing«, wie es in der Fachsprache heißt). In einem komplexen System besteht keine einfache Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Vielmehr kann ein komplexes System die Folge einer Störung mehrfach vervielfältigen, wie es der Fall ist, wenn man ein Streichholz an einer rauen Fläche reibt. Umgekehrt kann die Störung auch so gedämpft werden, dass das System kaum davon berührt wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man ein brennendes Streichholz in ein Glas Wasser fallen lässt.
Dieses Phänomen der Nichtlinearität einer Reaktion wird oft als »Rückkopplung« bezeichnet, ein sehr wichtiges Charakteristikum komplexer Systeme. Wenn ein System eine Störung von außen verstärkt, spricht man von einer »sich selbst verstärkenden« oder »positiven« Rückkopplung, hingegen von einer »dämpfenden«, »stabilisierenden« oder »negativen« Rückkopplung, wenn das System die Störung eindämmt und größtenteils ignoriert. Wie es heißt, ist bei einem komplexen System immer mit einem »Rückschlag« (»Kick back«) zu rechnen3, manchmal erfolgt so ein Rückschlag überraschend heftig und gelegentlich erscheint er einfach chaotisch.
Die Tendenz komplexer Systeme zum Zusammenbruch lässt sich unter anderem unter dem Aspekt der »Kipppunkte« betrachten. Der Begriff verweist darauf, dass ein Kollaps kein sanfter Übergang ist, sondern eine drastische Veränderung, die das System von einem Zustand in einen anderen überführt, wobei es kurzzeitig einen instabilen Zustand durchläuft. S. 14
Unter einem Attraktor versteht man eine Reihe von Parametern, auf die sich ein System zubewegt. Der Kipppunkt ist systemisch betrachtet das Gegenteil: Der Attraktor zieht das System an, der Kipppunkt stößt es ab. Ein System im Zustand der sogenannten Homöostase »tanzt« gewissermaßen um einen Attraktor, bleibt in seiner Nähe, erreicht ihn aber nicht. Wenn sich das System jedoch vom Attraktor entfernt, etwa aufgrund einer äußeren Störung, kann es den Kipppunkt erreichen und auf die andere Seite, in den Einflussbereich eines anderen Attraktors kippen. In der Physik wird diese drastische Veränderung als »Phasenübergang« bezeichnet; dieser ist der entscheidende Mechanismus des Phänomens, das wir »Kollaps/Zusammenbruch« nennen.
Die Fähigkeit eines Systems, sich auch bei einer starken Störung in der Nähe eines Attraktors und vom Kipppunkt fernzuhalten, bezeichnen wir als Resilienz. S. 14f
»Das Harte und Starre begleitet den Tod. Das Weiche und Schwache begleitet das Leben.«
Laotse
Tatsächlich ist der Seneca-Effekt meist die Folge des Versuchs, sich einer Veränderung zu widersetzen, statt sie anzunehmen. Je mehr Widerstand man gegen eine Veränderung leistet, desto mehr schlägt diese Veränderung zurück und überwindet schließlich diesen Widerstand. Und oft geschieht dies plötzlich. Letztlich ist dies das Ergebnis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik: Die Entropie nimmt zu. Es ist kein Zufall, dass Philosophen häufig dazu raten, sich nicht an materielle Dinge zu klammern, die Teil dieser schwierigen und unbeständigen Welt sind. Das ist durchaus ein guter Rat. S. 15
Es bedeutet, dass man niemals versuchen sollte, das System zu etwas zu zwingen, was es nicht tun will. Obwohl eigentlich klar sein müsste, dass man Entropie nicht bekämpfen kann, versuchen es Menschen immer wieder. S. 16
Die Politik beispielsweise scheint jeden Versuch aufgegeben zu haben, sich Veränderungen anzupassen, und greift stattdessen zu groben, schlagkräftigen Parolen, die eine unmögliche Rückkehr in die frühere Zeit der Prosperität versprechen. S. 16
Dabei darf man nicht vergessen, dass man zwar ein Problem beheben kann, nicht aber eine Veränderung. Veränderungen kann man sich nur anpassen. S. 16
Man kann daher komplexe Systeme untersuchen und verstehen, auch wenn einem als Instrumente nur der gesunde Menschenverstand, Wissen und Ausdauer zur Verfügung stehen. S. 18
»Wachstum schreitet langsam voran, der Ruin aber kommt rasch.«
Römische Philosophen Seneca
Kollaps von Gesellschaften
Nach Tainters Ansicht haben alle Gesellschaften Schwierigkeiten, ihre Strukturen und damit ihre Komplexität abzubauen – und das galt auch für Rom. Die »erforderlichen« Strukturen werden im Lauf der Zeit immer kostspieliger und bringen letztlich irgendwann mehr Schäden als Nutzen mit sich. Mit anderen Worten, die Gesellschaft erstarrt und kann ihre Komplexität nur noch durch Kollaps abbauen. Hier scheint Tainter das Konzept des »Tipping Point« (Kipppunkt) aufzugreifen, ein Merkmal komplexer Systeme, das sie (ab einem bestimmten Punkt) daran hindert, auf eine Störung von außen mit Anpassung zu reagieren. S. 35
Wir sehen, dass das Römische Reich so zusammenbrach, wie man es von einem komplexen System erwartet: auf komplexe Weise. Das heißt, es kollabierte in einer Kaskade von Rückkopplungen, ausgelöst durch Folgeerscheinungen, die auf eine einzige Ursache zurückgingen: die Erschöpfung der Gold- und Silberminen. Die vielfachen Rückkopplungen verstärkten einander: politische Unruhen, interne Konflikte, militärische Schwäche, Niedergang des Handels und wahrscheinlich auch ein Bevölkerungsrückgang. Dies ist typisch für komplexe Systeme, in denen die Rückkopplungen in der Regel weitaus sichtbarer und spektakulärer sind als die Einflüsse, durch die sie verursacht wurden. Folglich neigen Menschen zu der Annahme, die Rückkopplungen seien die Ursache des Zusammenbruchs, und es wird oft behauptet, der Kollaps einer Zivilisation sei das Resultat einer Kombination von Faktoren, die voneinander unabhängig sind und nur zufällig alle gleichzeitig wirksam werden. Diese Hypothese wurde unlängst für den Zusammenbruch der bronzezeitlichen minoischen Kultur vorgetragen.39 Aber in einem komplexen System ist nichts vom Rest unabhängig und es gilt das bekannte Gesetz der Biologie, das besagt: »Alles hängt mit allem zusammen.« S. 43f
Jedes komplexe System ist anders, aber alle folgen gewissen Regeln. Die Kaskade von Rückkopplungen, die ein riesiges System zu Fall bringen kann, ist eine dieser regelhaften Vorgänge, die ich in diesem Buch als »Seneca-Kollaps« bezeichne. S. 43
Zusammenbrüche
Ein Materialbruch ist ein typisches nicht-lineares Phänomen, doch Maschinenbauingenieure lernen in der Regel »lineares Denken« und gehen daher davon aus, dass es stets eine direkte Beziehung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Mit anderen Worten, Ingenieure erwarten, dass sich Materialien in einem proportionalen Verhältnis zum darauf ausgeübten Druck verformen – was sie normalerweise auch tun. In Ausnahmefällen tun sie es jedoch nicht und dies ist immer dann der Fall, wenn es zum Bruch kommt und als Folge davon Menschen sterben. S. 47
Aber keine Messung kann Auskunft darüber geben, wann genau die schnelle Phase einer Lawine eintritt. Ein gutes Beispiel für dieses Problem ist der Erdrutsch, der 1963 zur Katastrophe im italienischen Vaiont führte. Er bewirkte, dass das Becken eines Wasserkraftwerks überlief und die so entstandene Welle fast 2000 Menschen unter sich begrub. Geologen wussten, dass das Gebiet erdrutschgefährdet war, konnten aber das Risiko hinsichtlich der Größe und des Zeitpunkts nicht genau bestimmen. S. 64
Wir wissen bereits eine Menge über Erdbeben und können ziemlich genau die Wahrscheinlichkeit von Erdbeben einer bestimmten Intensität voraussagen. Wir wissen außerdem, wo sich die Kontinentalplatten gegeneinander verschieben und in welcher geografischen Region Erdbeben am wahrscheinlichsten sind, etwa an der San-Andreas-Verwerfung, die sich durch Kalifornien zieht und wo sich die nordamerikanische Platte an der pazifischen entlang schiebt. Daher ist diese Region besonders erdbebengefährdet und man wartet nur darauf, dass »The big one« zuschlägt – es also zu einem Großereignis mit möglicherweise apokalyptischen Auswirkungen kommt. Aber was man nicht sagen kann, ist, wann genau ein Erdbeben eintritt, ein Problem, das sich in allen seismischen Regionen der Welt stellt. S. 67f
Daher können wir uns trotz all unserer Kenntnisse über kritische Phänomene vor Erdbeben nur schützen, indem wir Gebäude errichten, die ihnen standhalten, ohne Schaden zu nehmen. S. 68
Die Schlussfolgerung, die wir daraus ziehen können, lautet, dass große Ereignisse, die als unerwartete Katastrophen gelten, in Wirklichkeit nur der Extremfall in einer Abfolge von nicht katastrophalen oder weniger katastrophalen Ereignissen sind. Nassim Taleb hat solche Ereignisse auch als »graue« oder »schwarze Schwäne« bezeichnet. S. 69
Vorsichtsmaßnahmen gegen zufällige Ereignisse zu treffen wird nicht dadurch überflüssig, dass sie zufällig sind. Im Gegenteil, es ist nicht nur klug, sondern auch eine Pflicht. S. 70
Dies ist nur ein Beispiel für den immensen Aufwand unter Beteiligung einer Vielzahl von Forschern, mit dem viele Netzarten untersucht werden. Dabei ist zu beachten, dass diese Ergebnisse für relativ einfache Netze gelten, während es sich bei vielen Netzen in der wirklichen Welt um vielschichtige Strukturen handelt, um »Netze aus Netzen« (NON, »Networks of networks«), deren Verhalten komplexer ist, die aber gleichwohl untersucht werden können. S. 75
Das gilt insbesondere bei unseren heutigen lebenswichtigen Infrastrukturen!
Mit dem Geld hat es etwas Spezielles auf sich, das ihm die Fähigkeit verleiht, diese Achterbahnzyklen von Wachstum und Kollaps zu erzeugen. Es ist die Chimäre des pekuniären Gewinns, die Menschen veranlasst, falsche Entscheidungen zu treffen, welche zu weiteren falschen Entscheidungen führen. Es handelt sich um den typischen Fall eines Phänomens, das sich selbst speist, bis es eine gewisse Komplexität erreicht und dann mit einer Finanzlawine zusammenbricht, die wie jede echte Lawine nur Schmerz und Verderben hinterlässt. S. 85
Mit dem Finanzkollaps von 2008, der den Beinahzusammenbruch des Welthandelssystems verursachte, haben wir bereits ein unheilvolles Vorzeichen gesehen und das Finanzsystem ist nicht wirklich saniert worden. Aber wie lange können wir das Geldspiel noch spielen, ehe das ganze Gebilde mit einem gewaltigen Seneca-Kollaps auseinanderbricht? Das kann niemand sagen. S. 100
Bei allen Spezies haben die Eltern die Wahl (die nicht unbedingt bewusst getroffen wird), wie sie ihre begrenzten Ressourcen nutzen. Eine Methode besteht darin, so viele Nachkommen wie möglich zu zeugen, »wissend«, dass diese für sich selbst werden sorgen müssen, und in der Hoffnung, dass zumindest einer überlebt. Man bezeichnet dies als »r-« oder »Kaninchen-Strategie«. Die andere Möglichkeit ist, in eine kleine Zahl von Nachkommen zu investieren und so für sie zu sorgen, dass sie die größtmöglichen Chancen haben, das Erwachsenenalter zu erreichen. Dies ist die sogenannte »K-« oder »Elefanten-Strategie«. Welche Wahl die Eltern treffen, hängt von der Situation ab: Vorausgesetzt, dass alles andere gleich bleibt, neigen Spezies, die in instabilen Verhältnissen (z. B. wenn die Menge der zugänglichen Nahrung schwankt) und unter unvorhersehbaren Umständen (z. B. bei großem Prädationsdruck) leben, dazu, »r-selektierende« Eigenschaften zu entwickeln, verbunden mit hohen Reproduktionsraten, geringem Aufwand und relativ kurzen Zeitspannen zwischen den Generationen. Im Gegensatz dazu präferieren Spezies, die unter stabilen und vorhersehbaren Umweltbedingungen leben, »K-selektierte« Eigenschaften, verbunden mit geringen Fortpflanzungsraten, hohem elterlichen Aufwand und langen Zeitspannen zwischen den Generationen. S. 115
Schätzungen zufolge gingen in den 1970er-Jahren 12,8 Prozent der gesamten in den USA verbrauchten Energie auf das Konto des Ernährungssystems. Im Jahr 1994 war dieser Anteil auf 17 Prozent angestiegen. Heute liegt er wahrscheinlich noch höher. Diese riesigen Energiemengen fließen nicht nur in die Nahrungsproduktion, sondern auch in Lagerung, Verpackung und Distribution. Ohne die fossilen Brennstoffe würde das System sofort zum Erliegen kommen. S. 121
Eine noch gravierendere Bedrohung stellt der Anstieg des Meeresspiegels dar. Gegenwärtig beträgt er etwa ein bis zwei Millimeter pro Jahr, eine Größenordnung, die nicht besorgniserregend zu sein scheint. Doch das ist ein typisches Beispiel für die Seneca-Falle: Man nimmt zwar allmähliche Veränderungen wahr, nicht aber die lauernde plötzliche Katastrophe. Das Abschmelzen der Gletscher könnte sich so beschleunigen, dass durch den Anstieg der Meeresspiegel die Häfen weltweit binnen weniger Jahre (längstens weniger Jahrzehnte) nicht mehr nutzbar wären. Dann würde auch das großartige globale System des Nahrungstransports per Schiff in alle Teile der Welt nicht mehr funktionieren, was einer Katastrophe gleich käme. S. 121f
Leider gibt es, selbst wenn alle technologischen Schwierigkeiten einer nachhaltigen Landwirtschaft gelöst werden könnten, noch ein tieferliegendes und möglicherweise noch gefährlicheres Problem bei der Aufrechterhaltung des Ernährungssystems: seine Steuerung. In einem früheren Kapitel haben wir gesehen, dass das Römische Reich wahrscheinlich deshalb unterging, weil sein Finanzsystem außer Kontrolle geriet. Etwas Ähnliches könnte heute mit der Nahrungsversorgung auf unserer Erde passieren, da sie vom weltweiten Finanzsystem abhängig ist. Nahrungsmittel können deshalb weltweit verteilt werden, weil jemand dafür bezahlt. Geschieht dies nicht mehr, bricht die Nahrungsversorgung sofort zusammen: ein weiterer Fall von Seneca-Kollaps. S. 122
Verknappung
Die Erschöpfung von Bodenschätzen ist nämlich ein subtiles Problem. Und zwar weil es schrittweise eintritt; es gibt keinen bestimmten Moment, in dem der Industrie ein bestimmter Rohstoff »ausgeht«. Vielmehr verschwinden zuerst die besten Rohstoffe, nämlich jene, die rein, konzentriert und leicht abbaubar sind. Übrig bleiben Rohstoffe, die schmutzig, verstreut und unzugänglich sind und daher teurer in Abbau, Verarbeitung und Reinigung. Ab einem gewissen Punkt werden die Produktionskosten so hoch, dass sich die Sache nicht mehr lohnt. Dann muss sich der Abbau verlangsamen oder ganz aufhören, obwohl theoretisch noch förderbare Vorkommen im Boden sind. Dieser Zusammenhang ist besonders für Politiker schwer zu begreifen, weil sie nach Ja-Nein-Antworten auf ihre Fragen suchen. Angesichts von Problemen mit der Rohstoffversorgung fragen Politiker ihre Experten: »Gibt es noch Kohle (oder Erdöl oder was immer), die abgebaut werden kann?« Und die einzige Antwort, die auf diese Frage möglich ist, lautet »Ja«. Nun ziehen die Politiker den Schluss, wenn Kohle (oder Erdöl oder was immer) nicht abgebaut wird, dann liege das an den Machenschaften der Gewerkschaften, der Faulheit der Arbeiter, Sabotage durch Feinde oder Ähnliches. Aber es gibt keine einfachen Antworten auf diese komplexen Probleme und die Wirklichkeit hat es an sich, weiterhin zu existieren, auch wenn Politiker sie nicht verstehen (wollen). S. 127
Wir alle wissen, dass es bei Propaganda nicht primär darum geht, Lügen zu erzählen, sondern darum, sich auf nur einen Aspekt der Wahrheit zu beschränken. Das gilt auch für die Verknappungsdebatte. Zu behaupten, ein bestimmter Rohstoff werde noch für Jahrzehnte, Jahrhunderte oder länger reichen, ist keine Lüge, entspricht aber auch nicht der Wahrheit. Solche Zahlen beruhen auf nur einem Aspekt des Problems sowie auf stark vereinfachten Annahmen. Nämlich der statistischen Reichweite von Reserven, die angibt, wie viele Jahre ein Rohstoff reichen wird, vorausgesetzt, der Umfang der Reserven ist bekannt und die Förderrate bleibt gleich. S. 131f.
So gesehen, ist es mit der Förderung eines Rohstoffs wie beim Kuchenessen: Solange noch Kuchen da ist, kann man weiter essen. Dieser besondere Kuchen namens Rohöl hat sogar die Eigenschaft, dass er größer wird, während man isst! Wenn Sie glauben, das sei zu schön, um wahr zu sein, haben Sie recht: Die optimistische Vision, die Ölreserven als Kuchen betrachtet, weckt unrealistische Hoffnungen. Um eine unangenehme Frage aufzuwerfen, möchte ich einen Bericht mit dem Titel »Oil Discoveries at a 70-year low« zitieren, der 2016 bei Bloomberg erschien (nicht gerade ein Hort der Unheilspropheten). Die Daten zeigen, dass die in den vergangenen Jahrzehnten gefundenen Ölmengen weit unter den geförderten Mengen lagen. Mit anderen Worten, die Neuentdeckungen reichen nicht aus, um die Erschöpfung alter Quellen auszugleichen, ein Trend, der schon vor dem Bloomberg-Artikel bekannt war und der sich mit einem Tiefpunkt neu entdeckter Reserven im Jahr 2016 fortsetzt. S. 132
Aber bei den Schätzungen der Erdölreserven sind weder Falschmeldungen noch Intrigen oder Verschwörungen im Spiel. Das Problem ist, dass die Nutzung der statistischen Reichweite zur Beurteilung der Zukunft von Rohstoffen nicht sinnvoll ist. S. 133
… auch bei den Schätzungen der »bekannten Reserven« durch die Industrie. Diese Ressourcen existieren zwar wahrscheinlich, aber man braucht Geld (und zwar nicht wenig), um sie zu finden, abzubauen und zu verarbeiten. Folglich sind Rohstoffe keineswegs ein Kuchen, bei dem man bloß zugreifen muss. S. 133
Vor demselben Problem steht jedes Lebewesen: Für einen Löwen ist die Jagd auf eine Gazelle nur sinnvoll, wenn die durch das Fressen der Gazelle gewonnene Energie größer ist als diejenige, die bei der Verfolgung verbraucht wurde. S. 134
Heute wird die energetische Amortisation von Rohöl auf 10 bis 20 geschätzt. Das heißt, wendet man die Energie von einem Barrel Öl auf, um Öl zu erschließen, zu fördern und zu produzieren, erhält man das Energieäquivalent von 10 bis 20 Barrel Öl zurück. Vor 100 Jahren lag die energetische Amortisation für Öl sehr viel höher, etwa in der Größenordnung von 50 oder mehr. S. 134
Wir haben bereits mehrere Beispiele für den maßgeblichen Einfluss finanzieller Faktoren gesehen, die Zusammenbrüche erzeugen, noch bevor die physischen Probleme, die das System zu tragen hat, ernst werden. Der Rohstoffabbau ist Teil des Welthandelssystems und daher anfällig für Zusammenbrüche des Finanzsystems, wie wir sie 2008 erlebt haben. Zudem sind die verschiedenen Sektoren des Rohstoffabbaus miteinander verflochten; kollabiert ein Sektor, reißt er andere mit sich. Wenn zum Beispiel die Ölförderung sinkt, ist immer weniger Diesel für die Maschinen verfügbar, die Kohle und andere Bodenschätze abbauen. Wenn der Kohleabbau abnimmt, wird es schwierig, den Stahl zu produzieren, der für die Bohrgeräte der Erdölbranche benötigt wird. All diese Faktoren machen es nun schwieriger, Kupfer und Eisen abzubauen, die für die Maschinen zum Abbau anderer mineralischer Rohstoffe benötigt werden. S. 138f
Das ultimative Schicksal, das der Menschheit droht, wäre gleichbedeutend mit einem kompletten Stopp des Bergbaus. Das wird geschehen, nicht etwa weil alle Erze erschöpft wären, sondern weil es sich als unmöglich erweisen wird, das industrielle System in der heutigen Form funktionsfähig zu erhalten. S. 140
Sobald uns die konzentriert vorliegenden Erze ausgehen (die wir heute abbauen), wird die Versorgung mit diesen Mineralien so gut wie unmöglich – jedenfalls wenn wir das derzeitige Förderniveau halten wollen. S. 141
Erwähnt man in der Diskussion um Verknappung, dass die Menschen womöglich die Ressourcen zerstören, die ihren Lebensunterhalt sichern, ist die Reaktion oft heftige emotionale Verleugnung. Die Vorstellung, der Niedergang der Waljagd im 19. Jahrhundert habe nichts damit zu tun, dass zu viele Wale getötet wurden, hat sich bis heute gehalten. verschiedenen Erklärungen erfreut sich die Deutung großer Beliebtheit, die Walfangbranche sei durch Petroleum – ein neuer, billigerer Brennstoff, durch Destillation aus Erdöl gewonnen – zugrunde gerichtet worden. In diesem Licht betrachtet, erscheint der Niedergang des Walfangs als Triumph des menschlichen Erfindungsreichtums: ein weiteres Beispiel dafür, wie neue Technologien die Verknappung überwinden können, und zwar jetzt und in Zukunft. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. S. 146
Anscheinend reagierte die Industrie auf Fischverknappung typischerweise mit Investitionen in bessere und leistungsfähigere Ausrüstung. Aber ganz gleich wie leistungsstark die Boote der britischen Fischereiflotte sind, sie konnten keinen Fisch fangen, den es nicht mehr gab. S. 148
Es handelt sich um ein modernes Phänomen: In der Vergangenheit galt der Reichtum des Meeres als unerschöpflich und der Gedanke, dass uns der Fisch ausgehen könnte, war schlicht unvorstellbar. S. 149
Nach einem Bericht der Welternährungsorganisation stammen über 50 Prozent der weltweiten Fischproduktion aus Fischfarmen. Auch diese Entwicklung könnte als Triumph des menschlichen Einfallsreichtums gedeutet werden, mit dem das Problem der Überfischung gelöst würde. In Wirklichkeit aber werden in Fischfarmen wertvolle Fische wie Lachs mit weniger wertvollen Fischen gefüttert, womit das Problem in der Nahrungskette nach unten verlagert wird. S. 150
Die sinkende Produktion von geringwertigem Fisch führte dazu, dass Farmfische Futter erhielten, das ihre Vorfahren in der Wildnis nie zu sich genommen hatten, wie etwa Schweine- und Hühnerfleisch und sogar Weizen oder Gerste. Das Ergebnis ist die Erzeugung von Fisch, der mit seinen Artgenossen, die einst in der Wildnis gefangen wurden, wenig zu tun hat – unter anderem hat er einige Nährwerteigenschaften eingebüßt. Wildlachs war einst für seinen hohen Vitamin-D-Gehalt berühmt, den er durch das Verzehren von Plankton erhielt. Lachs aus Fischfarmen hingegen, der mit Schweinefleisch oder Weizen gefüttert wird, enthält dieses Vitamin nicht in diesem Ausmaß. S. 150
Ein echtes Ökosystem ist, wie die Realwirtschaft, kein Ort, an dem Interaktionen nur paarweise stattfinden, etwa zwischen Verkäufer und Käufer, wie es die Grundidee der wirtschaftlichen Optimierung vorsieht. Das System ist vielmehr vernetzt und was ein Käufer tut, beeinflusst alle Käufer und alle Verkäufer. Wie wir in den vorhergehenden Kapiteln gesehen haben, neigen stark vernetzte Systeme zu Schwankungen und Zusammenbrüchen. Und genau das beobachten wir in realen Ökosystemen ebenso wie in der Weltwirtschaft. S. 152
In diesen Studien stellten wir häufig fest, dass der Zusammenbruch der Fischereiwirtschaft irreversibel ist, das heißt, die Spezies, an der Raubbau betrieben wurde, erholt sich nicht mehr und erreicht niemals wieder ihre vorherige Populationsgröße, so wie die Glattwale nie wieder die Stückzahlen erreichten, die sie zu Herman Melvilles Zeit hatten. Das bedeutet nicht, dass die Spezies bis zur Auslöschung gejagt wurde, aber es zeigt einen Faktor bezüglich der Komplexität von Ökosystemen, den das schlichte Lotka-Volterra-Modell ignoriert. Sobald eine biologische Population zusammengebrochen ist, wird ihre ökologische Nische häufig von einer anderen Spezies besetzt. Damit bleibt kein Raum mehr, den die ursprüngliche Spezies wieder besiedeln könnte, nachdem der Faktor wegfällt, der ihren Niedergang herbeiführte (z. B. Fischereitätigkeit des Menschen).
Dieses Problem beobachten wir zurzeit bei der Überfischung: Selbst wenn die Fischer ihr Tun einstellen, erreicht die Zahl der Fische nie wieder die frühere Größenordnung, weil ihre Nische von Wirbellosen besetzt wurde, etwa Quallen. Daher können die mit dem Lotka-VolterraModell erstellten Simulationen häufig darauf verzichten, die Vermehrung der Beutetiere einzubeziehen,211 und das Modell erzeugt eine schlichte »glockenförmige« Kurve, so wie für eine nichterneuerbare Ressource. In diesen Fällen ist der Seneca-Kollaps unumkehrbar. S. 158f
Wachstumsmechanismen komplexer Systeme: Komplexe Systeme verhalten sich nichtlinear und dadurch entstehen verschiedenste Verhaltensweisen, die studiert und klassifiziert werden können. Typische komplexe Systeme sind biologische und ökonomische Systeme und wir alle wissen, dass Populationen ebenso wie Volkswirtschaften zum Wachstum neigen, solange sie keinen verheerenden Zusammenbruch erleiden. S. 160
So ergab eine aktuelle Untersuchung der allgemeinen Eigenschaften von Netzen, dass Resilienz von drei topologischen Charakteristika bestimmt wird. Demnach weisen dichte, symmetrische und heterogene Netze die größte Resilienz auf, während lockerere, asymmetrische und homogene Netze geringe Resilienz zeigen. »Dicht« bedeutet hier, dass es eine Vielzahl von Verbindungen zwischen den Knoten gibt. Der Begriff »symmetrisch« steht für die wechselseitige Beziehung untereinander und »heterogen« dafür, dass die Knoten Verbindungen in unterschiedlicher Zahl haben (wie in einem skalenfreien Netzwerk). S. 207
Darüber hinaus tun wir gut daran, Warnsignalen Beachtung zu schenken, die auf einen Phasenübergang hinweisen. Ein typisches Merkmal für solche Situationen ist ein Phänomen, das als »kritische Verlangsamung« bezeichnet wird. Demnach erholen sich Systeme, die sich nah am Kipppunkt bzw. kurz vor dem Übergang in einen anderen Zustand befinden, typischerweise langsamer von Störungen. Auch Menschen waren in alter Zeit zweifellos in der Lage, kleine resiliente Gesellschaften zu errichten, in modernen Zeiten tun wir uns offensichtlich schwer damit. S. 208
Sobald ein Unternehmen oder eine Gesellschaft in Schwierigkeiten gerät, reagieren Manager oder Politiker in der Regel gerade nicht damit, die Diversität zu fördern. S. 209
Resilienz: die Akzeptanz des Unvermeidlichen. S. 209
Erholung ist die andere Seite von Resilienz: Ist ein Zusammenbruch unvermeidlich, kann man wenigstens versuchen, aus den Trümmern wieder aufzusteigen. Wie schwer oder einfach dies ist, liegt an der jeweiligen Struktur des Systems. S. 210f
Daher wird uns das Geld noch lange Zeit erhalten bleiben, weil es das Rückgrat des vernetzten Systems ist, das wir »Zivilisation« nennen. Wir können nur hoffen, dass wir lernen, ein wenig besser damit umzugehen, aber wir dürfen nicht erwarten, dass es zu einem Werkzeug wird, mit dem wir die Übernutzung und Zerstörung der Ressourcen, die wir zum Leben brauchen, beenden könnten. S. 220
Stuxnet: Offenbar richtete er verheerende Schäden an, aber wenn Computerviren als Waffe benutzt werden, stellt sich dasselbe Problem wie bei biologischen Waffen: Sie beruhen auf sich verstärkenden Rückkopplungseffekten und sind praktisch nicht zu kontrollieren. S. 223
Kollaps ist eine Eigenschaft und kein Defekt des Systems. Er ist das Werkzeug, das vom Universum genutzt wird, um das Alte zu beseitigen und Platz für Neues zu schaffen. Zusammenbrüche finden einfach statt und in manchen Situationen kann es hilfreich sein, sie zu befördern oder zuzulassen. Der gesteuerte Zusammenbruch einer überholten Struktur kann den Wandel erleichtern, der ohnehin unvermeidbar ist. S. 226f
Unser heutiges Imperium, das wir mit Fug und Recht als »Fossilimperium« bezeichnen können, steht ebenfalls an einem Scheideweg, denn die fossilen Brennstoffe haben ihr Verbrauchsdatum deutlich überschritten, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Dabei ist die Gefahr, die uns heute droht, weitaus gravierender und der Handlungsdruck geradezu lebensnotwendig. S. 227
Selbst wenn Regierungen und Institutionen nichts unternehmen, um die Treibhausgasemissionen zu senken, wird die Fossilindustrie voraussichtlich wegen steigender Produktionskosten und stagnierender Märkte kollabieren. Dieser Prozess hat bereits begonnen, aber wenn er wirklich Fahrt aufgenommen haben wird, werden seine Ausmaße gewaltig sein: Der Kollaps würde Milliarden Menschen in aller Welt betreffen – mit verheerenden Folgen, denn wir alle sind für die Erzeugung und den Transport von Lebensmitteln massiv auf Energiedienstleistungen angewiesen. S. 228
Was ist in dieser Situation zu tun? Wäre ein stilvoller Abgang der Fossilindustrie denkbar, ein eleganter Abgang, der einer nicht allzu steilen Seneca-Klippe folgt? Im Prinzip, ja. Die Studie, die ich 2016 mit meinen Kollegen Sgouris Sgouridis und Denes Csala veröffentlichte, wurde durch eine Strategie angeregt, die den Landwirten der Vergangenheit wohlbekannt war: Man muss etwas von der Ernte für das nächste Jahr aufheben. Anders ausgedrückt, der Bauer darf sein Saatgut nicht essen. Wir haben diese Strategie »den Weg des Sämanns« genannt und legen in unserer Studie quantitative Berechnungen vor, die zeigen, wie viel Energie wir aus den verbleibenden fossilen Reserven entnehmen müssen, um die Infrastruktur für die erneuerbaren Energien aufzubauen, die reibungslos die gegenwärtige fossilbasierte Infrastruktur ersetzen kann. Wir berücksichtigen natürlich auch, dass dabei die Emissionen stark begrenzt werden müssen, um den Klimakollaps zu vermeiden. Wenn uns das gelingt, wird es »nur« die Fossilindustrie sein, die zusammenbricht, und nicht der Rest der Welt. Die Berechnungen zeigen, dass dies möglich ist; beachten Sie, wie die globale Produktion fossiler Brennstoffe einen klaren Seneca-Kollaps durchläuft, die Gesamtenergieproduktion aber weiterhin zunimmt, um die Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung zu decken (siehe Abbildung 30). S. 229
Sie müssen zugeben: eine hübsche Idee. Aber sie hat einen Schönheitsfehler – sie ist teuer. Das Hauptproblem für ihre Realisierung sind nicht so sehr die Gesamtkosten; es ist eher die Notwenigkeit, dass wir jetzt anfangen müssen, dafür zu zahlen. Die Energiemenge, die aufgebracht werden muss, um eine neue Energieinfrastruktur zu schaffen, muss um den Faktor 50 steigen, und zwar jetzt. Und das ist wenig wahrscheinlich angesichts einer gegenwärtigen Debatte, die von Meinungsmachern geführt wird, die das Potenzial der erneuerbaren Energien noch nicht erkannt haben. Dennoch, wir haben kaum andere Optionen, wenn wir den Klimakollaps vermeiden und die Weltbevölkerung mit einem Minimum an Energie versorgen wollen. S. 229
Niemand schien bedacht zu haben, dass Öl umso schneller zur Neige geht, je schneller man es extrahiert. S. 230
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